In wolkenverhangener Nacht peitscht eisiger Wind über das Feld. Elisabeth irrt, sucht die Richtung West, Nordwest und die Sicherheit vor der heranrückenden Front. Die Stalinorgeln verstummen, während am Horizont kein Lichtlein brennt. Und doch findet sie ein Haus, eine kleine Kate mit warmem Ofen. Vielleicht ihr Heil vor den Soldaten, die nicht ruhen wie ihre Gewehre und Panzer. Nur Gott weiß, wie ihr die Flucht nach Westen gelingt. Nach Kiel kommt sie und findet Anstellung in einem beliebten Lokal. Schnell findet sie Anschluss und wird zur großen Schwester für die Tochter der Wirtin. Der Wiederaufbau beginnt, der äußere und innere.
Elisabeths Verlobter holt sie schließlich aufs Land ins augenscheinliche Paradies. Walter, ein ruhiger Mann mit starken Schultern und freundlich leuchtenden Augen, die stets einen Funken Melancholie in sich tragen. War es der Krieg? Oder ist es Elisabeth, die schafft, hilft, anpackt, den Jungen versorgt und schließlich ein zweites Mal schwanger wird. In ihren Augen funkelt das Gegenteil, die Unruhe, das Haltlose, die Suche nach Glück, nach Lebensglück auf ihrem weiteren Weg, der die junge Familie fort führt von der Schlei ins Ruhrgebiet nach Oberhausen.
„Bislang war in meinem Leben kaum etwas oder jemand menschenfreundlicher gewesen als die Bücher. Schließlich gibt es nur wenige, die nicht aus Liebe geschrieben wurden, aus irgendeiner Form von Liebe, und sei es, der zur Sprache. Aber so viele ich auch bis in mein graues Alter hinein gelesen hatte und immer noch lese, ein Mangel ist den meisten belletristischen gemeinsam: Ein Roman verkörpert stets einen gewissen Mutwillen, er zwingt das Geschehen in eine Form, die es im Leben selten gibt und die uns in unserer Angst vor dem Traurigen, Schrecklichen oder Chaotischen besänftigen soll.“ (S 286)
Berauschen und besänftigen vom Erlebten, vom Schrecklichen, sind die oszillierenden Motive in Ralf Rothmanns Roman ‚Die Nacht unterm Schnee‘, dessen Figuren sich reiben, Antipoden sind, die wider sozialer Gesetzmäßigkeiten für einander da sind, Freundschaft pflegen, bisweilen große Verantwortung tragen. Die eine eher vom Leben begünstigt durch Herkunft und Bildung – die andere entwurzelt und nach Auswegen suchend, wie sie der vieldimensionalen Enge entfliehen kann.
Ebenso handlungsleitend ist die reale und innere Fluchterfahrung als weiteres Motiv, was Rothmann auf 304 Seiten empathisch, detailreich, geradezu dringlich herausarbeitet. Die bigotte Nachkriegsgesellschaft im engem Rahmenkorsett bebildert darüber hinaus, was die Antagonistin und Ich-Erzählerin aus ihrer Perspektive über Elisabeths Leben bespricht, aber auch über ihr eigenes. ‚Die Nacht unterm Schnee‘ ist ein Roman, der grau bis pechschwarz nur selten in warmen Farben seine sieben Kapitel zeichnet. Der dafür in die Herzen schaut und offenlegt, was seine Figuren verborgen mit sich tragen. Der nicht urteilt über das Geschehene und all die Schattengeschichten, die letztlich auch immer sonnig von Hoffnung erzählen.
- Gelesen im März 2023
- Eine schöne Empfehlung, lieber Markus. Ich danke dir.
Ich war sehr beeindruckt von der Intensität der Situationen, die Rothmann beschreibt. Ich überlege weitere Bücher von ihm zu lesen. Hast du Tipps? Oder ähnliche Autoren wie ihn auf Lager? Danke für die schöne Besprechung.
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Danke dir für deinen Kommentar. Andere Bücher von Rothmann habe ich bislang nicht gelesen. Wenn du nach Tipps fragst, hat mich sein Ton sehr an Iris Wolffs „Die Unschärfe der Welt“ erinnert, die weibliche Perspektive trifft Daniela Krien sehr gut und inhaltlich empfehle ich Christoph Hein mit „Trutz“, seinem besten Roman, wie ich finde.
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