‚Natura morta‘ von Josef Winkler

Wildes Gewimmel schwirrt über die Wege auf der Piazza Vittorio Emanuele. Hinüber auf den Markt zu den Ständen der Fleischhauer mit verschmierten Schürzen, zur Hühnerverkäuferin mit welligem Haar und schlaffen Lidern, weiter zu der Eingeweideverkäuferin mit den langen roten Fingernägeln, die summend Radio Maria lauscht. Piccoletto, der Sohn der Feigenverkäuferin, zieht indes seine Bahnen vorbei an den Fischständen. Der abgetrennte Schwertfischkopf aufgespießt am Haken weist den Weg über die im Rinnstein schwimmenden Schuppen, Flossen, Reste von Oktopussen und den Hoffnungen der Tausend, die tagein tagaus diesem Ort Leben einhauchen unweit der Stazione Termini.

Wie viele seiner Generation trägt der Sohn der Feigenverkäuferin einen bunten Plastikschnuller am Ohr. Der Hals behängt mit Kruzifix an goldener Kette, die ausladend bei jedem Schritt pendelt nach links und rechts. Am Laden für Touristenkitsch trifft Piccoletto die beiden Mädchen, die ebenfalls bunte Plastikschnuller tragen und auf Pilgergruppen und Schulklassen blicken. An diesem Ort in der ewigen Stadt brennt die Sonne heiß auf baumlose Plätze. Vom Fluss trägt der Wind den Geruch brackigen Wassers hinüber zu dem Sohn der Feigenverkäuferin, während das Memento mori ihre Luft zum Atmen ist.

„IM ALTEN TEIL des Campo Verano, zwischen eisernen Prunksärgen und Totenfackeln haltend, verwitterten und bemoosten Engelsstaturen, irrte miauend und immer wieder Buona notte, anima mia! murmelnd, der verwirrte, dicke, ein kurzärmliches Hemd tragende Frocio mit einem Strauß roten Ginster umher.“ (S.108)

Josef Winklers römische Novelle ist ein Stillleben über Piccolettos Tage, über sein und das Leben der Anderen mit Posen und Possen, mit Neckereien und Liebeleien zwischen den Marktständen. Weniger die Handlung als vielmehr die Form, die detailversessen repetitive Deskription der Menschen, ihres Habitus‘, ihrer körperlichen Dispositionen sind Winklers großes Werk mit ‚Natura morta‘ auf bedächtig schwingenden 108 Seiten. Derb und aus der Zeit gefallen seziert der Autor mit scharfem Blick die Landschaft. Ungeschönt beschreibt Winkler nicht selten verstörend, bleibt stehen in seiner Betrachtung und zwingt seine Lesenden in, aus heutiger Sicht, unkorrekter Sprache hinzusehen, innezuhalten und anzunehmen.

‚Natura morta. Eine römische Novelle‘ ist schwer bekömmlich, nichts Leichtes, der Seele augenscheinlich Wohltuendes und zugleich große Poesie und große Literatur. Die formale Entscheidung zur Reduktion, die die Handlung hintenanstellt und der Vergänglichkeit die große Bühne bietet, trägt und überwältigt unter der Voraussetzung, sich einzulassen auf die 2001 erschienene und im gleichen Jahr mit dem Alfred-Döblin-Preis prämierte Novelle.

Mein Fazit: Bedrückend, ergreifend, über eine Fanta-Dose am Wegesrand stolpernd, mit Blick auf die Dinge wie sie sind und bedacht auf die Gewissheit allgegenwärtiger Vergänglichkeit und großem Herzen für das Leben.

  • Gelesen im März 2023
  • Herzlichen Dank, lieber Patrick, für deine Empfehlung zu dieser literarischen Reise an die Piazza Vittorio, auf der ich so gerne Oliven in der Sonne aß.

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