Eeene eschte Kokosch, rufen die Leute auf der Straße. Sie drehen sich um und grienen sie an, die kleine Ida Kokosch, die nu ieer in Tann bei dor Ohm in de Schule gääht. Ihre Eltern beschließen, dass es das Beste sei. Das Zirkusleben der Eltern würde ihrer Ausbildung nicht zuträglich sein. Glücklich ist die Ohm, das zu hören und die Stolz ist auf ihr einst so schieees Tann. Die Ohm, die eine Hiesige ist. Nicht zugezogen, wie so viele. Aber sei es drum. Oft hallte das Berggeschrey durch die engen Täler von den Tanner Bergen herab. Erst das Silber und später mit strahlendem Lachen der NKWD-Funktionäre mit ihren Schürfrechten und der Wismut im Schlepptau.
Dabei erinnert die Ohm noch genau, als ihr Tann zum großen Kurbad wurde. Werden sollte, wäre bloß nicht der Krieg. Verstummen im Berg. Die Schlegel, Hämmer, Hunte stehen still, aus die Maus, das sieht die Ohm, die so viele hat gehen sehen. Die Schneeberger Krankheit – wir sind Bergmänner, wer ist mehr? Aber sei es drum. Mit der Ida geht die Familiengeschichte weiter in Tann. Erst die Grundschule und später die gute, die richtige Schule, auf die sie delegiert wird. Der Vorhang fällt. Aus die Maus.
„Ein verstocktes Murmeln im Chor, Höhepunkte einer Bekenntnisliturgie, die die achtundzwanzig jungen Freunde, wie der Parteisekretär sagte und dabei seinen trüben Blick auf sie richtete, in das Kollektiv der Staatsbürger aufnahm […] Wir haben euer Gelöbnis vernommen. Und die Plauener Spitze schwimmt auf der Brandenburger See.“ (S. 138)
Meine These, der Osten sei auserzählt, wird mit Tina Pruschmanns zweitem Roman ‚Bittere Wasser‘ klar widerlegt. Denn auf 282 Seiten erzählt die Autorin viel mehr als die Geschichte eines Mädchens, das bei ihrer Großmutter im Erzgebirge aufwächst. Idas Eltern, Stars im Staatszirkus und Reisekader, gastieren auf den Festplätzen der weiten Welt, während ihre Tochter am Rande der kleinen, immer enger werdenden DDR, heranwächst, Menschen beobachtet, ihre Elefanten mehr vermisst als die Eltern und im besten Sinne zum Gegenentwurf wird – der selbsternannten dritten Generation Ost.
Anhand dieser Familiengeschichte reflektiert Tina Pruschmann in Retrospektiven das soziale, ökonomische und politische Auf und Ab. Eng beieinander stehen Blüte und Verfall bedeckt von Stollenstaub und Abraumhalden. Mit ‚Bittere Wasser‘ ist Pruschmann ein Roman gelungen, der hineinspürt und schürft, wo unter verschütteten Träumen die Schätze verborgen liegen. Der formal und sprachlich wunderbar ausleuchtet, was in den dunklen Tälern selten vom Sonnenlicht beschienen wird. Neben Clemens Meyer und Daniela Krien erzählt Tina Pruschmann ohne verklärenden Blick in feinen Subtönen und fester Haltung die Geschichten des Ostens, auf deren Fortsetzung man sehr gespannt sein darf.
„Wie kurz der Weg doch ist, der hinter ihr liegt, als wären die vergangenen Jahre nicht mehr gewesen als ein langer Gedanke auf einem Spaziergang ohne Ziel.“ (S. 236) Prädikat: sehr lesenswert.
- Gelesen im Januar 2023
- Ganz herzlichen Dank für dein Geschenk, liebe Susann.