Es sind die besten Jahre, meinen Marta und Dani mit Überzeugung, als sie das Essen vorberieten, den Tisch decken für die Feier mit Freunden, bevor Rufus noch eine Runde vor die Tür muss. Seit zwei Jahren sind die Beiden zusammen. Mit Anfang 30 nun die erste gemeinsame Wohnung, wenn auch nicht im hippsten Viertel von Barcelona. Aber immerhin. Marta, Fotografin am Beginn einer hoffnungsvollen Karriere und familiären Wurzeln in Berlin und den unbedingten Willen, Großes zu starten. Loszuziehen, die Welt zu erobern. Und Dani? Dani sucht lange seinen Platz nach der Uni. Gelegenheitsjobs hier, Frauen da, die regelmäßigen Treffen mit seinem Freund Marc immer mittwochs. Mittlerweile arbeitet er als erfolgreicher Drehbuchautor einer banalen aber gefeierten Sitcom. Große Lust weiterzumachen, hat er nicht. Bis der Realitätskomet einschlägt.
„Worte, die die Zukunft entwerfen, öffnen und schließen sich wie ein Fächer. Solange es noch nicht konkret wird, sind sie wie ein Katalog an Möglichkeiten, den man gleichgültig, ohne Eile oder sichtbare Regung durchblättert. Die Zukunft ist nur etwas für alte Leute. Die Jugend klammert sich an die Gegenwart.“ (S. 187)
Tut sie das? Ist die Gegenwart die Sphäre der Jugend? Was oder was definiert sich als solche, als Jugend? Marta und Dani jedenfalls nicht, auch wenn ihr Leben im Rhythmus der 20er hängen blieb. Das Studium wurde zwar gegen die Arbeit getauscht und durchfeierte Nächte gegen Abende mit Freunden. Aber sonst? Darüber hinaus? Entscheidungen treffen? Verbindlichkeit? Dieses Thema verhandelt Marta Orriols in ihrem zweiten Roman ‚Sanfte Einführung ins Chaos‘ an der Türschwelle zum eigenen Cockpit.
Auf 238 Seiten ist ‚Sanfte Einführung ins Chaos‘ das Gegenteil, was der Titel vermuten lässt. Orriols verdeckt mit ihrem vordergründigen Handlungsstrang – einer unerwarteten Schwangerschaft und der Fragen, die sich Paare nach dieser Nachricht eben stellen – den oft zitierten Eltern-Kind-Konflikt einerseits und andererseits die allgemeine Situation für Menschen der Generation Y im kontemporären Spanien. Mit Chaos hat das wenig zu tun. Dafür rettet insbesondere der vielschichtige Subtext diesen Roman, als moralischer Zeigefinger passiv-aggressiver Prenzlmuttis zu enden.
Als Fazit ist ‚Sanfte Einführung ins Chaos‘ ein Roman, der gewiss keine Gebrauchsanweisung bereithält, wie es besser geht, aber Spaß macht, zu reflektieren, wenn es für die letzte Zigarette abends schon wieder viel zu spät ist. Ein Roman, der in verschiedenen Geschwindigkeiten von Wünschen spricht, im Zentrum jedoch einen sehr gleichen, zutiefst ehrlichen und wahrhaften Fixpunkt der Protagonist:innen fokussiert. Ein kurzweiliger Roman, der manchmal nervt, aber alles in allem wie eine schöne Radiosendung für angenehmes Hintergrundrauschen zu Weihnachten sorgt. Schöne Feiertage!
- Gelesen im Dezember 2022
- Zufallsfund in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.