Achtung, Theater! – ‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘ am Berliner Ensemble

Es schneit. Leise rieselt der Schnee auf kalten, schwarzen Boden, der entschlossenen Schrittes begangen wird. Beschritten im Stillstand. Im Verharren steht der Unbekannte zum Absprung bereit. Zum Losrennen hinfort aus unwirtlichem Theaterlicht, dessen Spotlights kraftvoll ein so starkes Bild wechselseitig beleuchten, wie es es im weiteren Verlauf der 80-minütigen Inszenierung von Dostojewskis ‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘ kein zweites Mal geben wird.

Es schneit. Schneit weiter vom Schnürboden hinab auf einen Mann, der abseits steht und sich fragend plagt, was der Mensch sei auf seiner Suche nach Freiheit. Ist der Mensch frei im Willen oder Teil einer Maschinerie, eines Systems, das ihn unfrei setzt. Rekapitulierend über sein Leben – vermeintlich von Schmerz und Enttäuschung geprägt – monologisiert der einsame Mann post ante singuläre Episoden, die wie Scheinwerfer flackernd, aus seiner Erinnerung ins Hier und Jetzt schnellen. Die Einladung annehmen? Wieso nicht. Natürlich nimmt er die Einladung alter Freunde an, die reüssieren und sich ihrer selbst stets sicher sind. So reproduziert der Unbekannte gesellschaftliche Verhältnisse, aus denen er zwar meint ausbrechen zu wollen, aber innerlich verharrt in seiner Pose. In der Hand der Koffer, die Muskeln zum Sprung, zum Loslaufen gespannt, bis das leise Rieseln vom Schnürboden verebbt und endet.

Die am 3. Dezember 2021 im Berliner Ensemble Premiere feiernde Arbeit von Max Lindemann brilliert viel mehr durch gute Textarbeit und einen Oliver Kraushaar, der die Rolle des Protagonisten vollends füllt, als die Inszenierung an sich. Mit großem Gestus im engagierten Spiel übertüncht Kraushaar unnötige Bilder und übertriebene Passagen hin zu einer tatsächlich sinnierenden Suche nach Antworten auf die wesentlichen Fragen des modernen Menschenseins. Dramaturgisch gut herausarbeitet ist das Oszillieren zwischen Können und Wollen. Dem Dualismus zwischen selbstgewählter Unmündigkeit und fesselnden gesellschaftlichen Verhältnissen, die als willkommene Ausreden dienen zwischen Wissen und Glauben.

‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘ ist eine Arbeit, die den russischen Klassiker durchdringt und dennoch überfrachtet. Ihre Reduktion auf den Kern, die im Bühnenbild von Katja Goertz deutlich zum Tragen kommt, hätte weiterhin auf Verzicht bauen und den hervorragenden Beginn stringent zum Abschluss führen können. Dieser erwartungsvollen Hoffnung wird die Inszenierung nicht gerecht, wenn sie auch in der Gesamtschau – eben durch die schauspielerische Leistung und die gute Bearbeitung des Textes – einen lohnenswerten wie streitbaren Theaterabend verspricht.

  • Gesehen am 15. November 2022
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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