‚Die Herzen der Männer‘ von Nickolas Butler

Im Norden der Northwoods träumt Nelsen noch schlummernd vom Adler-Abzeichen – dem obersten Dienstgrad der Pfadfinder –, während draußen vor dem Zelt Flora und Fauna einen neuen Tag willkommen heißen. Die Sonne steigt über die Wipfel der majestätischen Bäume und es ist früh. Sehr früh sogar, doch in wenigen Minuten, zehn oder fünfzehn vielleicht, wird Nelsen, in tadelloser Uniform gekleidet, auf dem Paradeplatz stehen und mit seiner Trompete den neuen Tag klangvoll begrüßen.

Jedes Jahr besuchen Nelsen und sein Vater das Pfadfindercamp im Norden Wisconsins. Es sind besondere Tage für Vater und Sohn. Für den Vater, weil er Ruhe hat vor den Zumutungen seiner eigenen Personen. Gewalt, Alkohol, Dummheit. Und für Nelsen, weil er Anerkennung erhält, tugendhaft seine Pflicht erfüllt, lernt, die Herzen der Menschen zu lesen. Nelsen ist Außenseiter und es ist völlig gleich, wann und wo und auf welchem Flecken Erde man lebt: Kinder können schlimmere Arschlöcher sein, als gewalttätige, betrunkene Väter. Was passiert also? Nelsen hat den Willen und das Vermögen, der Beste zu sein. Der mit scharfem Verstand und offenem Herzen die Widrigkeiten seines jungen Lebens meistert. In der Army, in Vietnam, als Vorbild für Erwachsene und Dinosaurier für die Pfadfinderkids.

Wie Nelsen sein Leben meistert, hat Nickolas Butler in ‚Die Herzen der Männer‘ auf 473 Seiten zu Papier gebracht. In vier Kapiteln schildert Butler aus wechselnder Perspektive das Leben dieses alten jungen Mannes. Mit Hilfe alternierender Ich-Erzähler variieren Jahrzehnt, geschilderte Generation, Perspektive und gesellschaftlicher Kontext geschickt. Ähnlich wie Christoph Hein hat Butler die Fähigkeit, feine Linien in große Gemälde zu zeichnen. Sein sprachliches Repertoire ist ein Geschenk an Lesefreude. Ganz gleich, ob der Inhalt zusagt oder nicht.

Inhaltlich verhandelt Butler große Politik im Kleinen und das mit einer Brille, die zu viel Moral, zu viel Pflicht, zu viel altes Amerika im Fokus hat. Insbesondere der erhobene Zeigefinger im Subtext wirkt fremd und antiquiert. Auch sein personelles Angebot bleibt arg klischeehaft konstruiert, bisweilen banal und unglaubwürdig. Multiperspektivität und weniger Tugendsoße hätten dem Roman an vielen Stellen gut getan. Andererseits wird dem Lesenden Toleranz durch Reibung abverlangt. Denn mit positiver Lesart hat Butler versucht, den Blick auf das Wesentliche zu lenken: Innere Freiheit und persönliches Glück, das sich teilen lässt mit Freunden, der Familie, der Gesellschaft im Allgemeinen. Damit ist Butler ein intergenerationaler Gesellschaftsroman gelungen, der die USA als vielschichtiges Sittengemälde ins Lesezimmer hängt. In dieser Perspektive ist ‚Die Herzen der Männer‘ ein gelungener und großer Roman über die Herzen der Menschen. Nicht nur im Norden der Northwoods – überall.

  • Gelesen im September 2020
  • Vielen Dank, lieber Nick, für dieses sehr schöne Geburtstagsgeschenk.

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