Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR. Letzter Halt vor Bernau mit der S-Bahn. Weit draußen also, draußen im Wald und weit weg vom Trubel der Regierungs- und Parteigeschäfte. Prof. Gerlinger, Koryphäe auf den Gebieten Herz-Kreislauf und Psychosomatik, hat des Öfteren prominente Patienten. Patienten aus dem Majakowskiring, so wie Collin – eingeliefert wegen des Verdachts auf Herzinfarkt. Ebenfalls in Gerlingers Klinik wird der Genosse Urack behandelt, den Collin gut kennt. Sie waren nie Freunde. Aber Parteifreunde sind sie und aus Spanien alte Veteranen. Einmal Revolutionär, immer Revolutionär, auch wenn Besitzstandswahrung höchste Maxime geworden war. Reaktionäre also, die Angst haben. Angst vor der Partei – dem Schild und Schwert der Partei.
Die Macht der Partei und ihrer Funktionäre – Funktionäre wie Urack – haben so manche der alten Veteranen spüren gelernt: Genosse Faber zum Beispiel und Genosse Havelka. Und alle waren beteiligt. Urack hatte zwar Federführung, aber im Gericht während der großen Prozesse luden sie alle Schuld auf sich. Der Kritiker Pollock ebenso wie der Schriftsteller Collin, Nationalpreisträger und Vorbild der Jugend. Doch Schuld und Angst sind selten gute Begleiter. Sie machen krank. So krank, wie das System in sich. Das sich gegen jeden richtet, der anders ist, anders denkt, Freiraum sucht. Ein System, welches das Gespür für die Menschen zu verlieren scheint. Menschen wie die Dr. Roth oder dem jungen Urack, Enkel des alten Urack, Enkel vom Leiter der Hauptabteilung XX.
Stefan Heym, der 1953 aus den USA in die DDR übersiedelte, kam bereits wenige Jahre später in Konflikt mit der Staatspartei. Das dialektische Prinzip von Kritik und Selbstkritik hinterfragend, stieß Heym auf wenig Wohlwollen bei den führenden Genossen. ‚Collin‘, 1979 in der Bundesrepublik veröffentlicht, zog den Ausschluss vom Schriftstellerverband nach sich. Denn auf den 315 Seiten skizziert Heym exemplarisch einen stalinistischen Säuberungsprozess der 50er Jahre in der DDR. Er dechiffriert deren Logik, seziert die Motivation der Partei und stellt Unrecht in einen moralischen Kontext, in dem facettenreich und gleichermaßen kontrovers die Argumente verhandelt werden.
‚Collin‘ ist allein deswegen schon lesenswert, weil es ein literarisches Zeugnis der Zeitgeschichte ist. Auf die Gefahr hin, einen schiefen Vergleich zu ziehen, sind die Motive des beschriebenen Diskurses ähnlich der 68er-Bewegung in Westdeutschland. Anders formuliert wird der Leser mit einer moralischen Katharsis konfrontiert, die authentisch daherkommt und es ernst meint. Am Lebensabend der Antagonisten Collin und Urack wird ein Sittengemälde gezeichnet, das Debatten vorweg nimmt, die im intellektuellen Mikrokosmos Ost-Berlins der 80er Jahre geführt wurden. Nicht nur für meine Generation eine spannende Lektüre. Insbesondere die alten Männer unserer Zeit sollten sich mit dem Ergebnis strukturkonservativer Beharrungskräfte auseinandersetzen.
- Gelesen im Oktober 2018
- Urlaubsempfehlung von Thomas; vielen Dank dafür!