‚Die Gleichung des Lebens‘ von Norman Ohler

Mangrovenwälder, Sümpfe, fischreiche Seen und zahllose Flüsse, mannigfaltige Arten in unendlicher Weite – nicht etwa in Südostasien, sondern zwischen Lewin, Wriezen und Bad Freienwalde. Wir schreiben das Jahr des Herrn 1747. Gottesfürchtig beten die Brücher zu den Geistern und Ahnen im Fluss. Sie beten um eine schwache Flut und gute Fänge. Seit Äonen leben sie mit dem Fluss im Rhythmus der Jahreszeiten. Sie leben von und mit ihm, exportieren seine Waren nach Berlin, Halle und weiter ins Reich, bis nach Italien gar. Sie pflegen die alte wendische Tradition mit ihren Eigenheiten und Mythen.

Die Großmacht Preußen steht noch in den Startlöchern. Der junge Alte Fritz verfolgt derweil den kühnen Plan, sich die Natur Untertan zu machen. Neue Methoden halten Einzug. Kartoffeln sind per Dekret anzubauen und zu verzehren. Dafür braucht er Land! Gutes, frisches Land, das Friedrich nur eine Tagesreise östlich von Berlin entfernt der Märkischen Streusandbüchse abtrotzen will. Übertragen wird die Aufgabe Leonhard Euler, der als geschätzter Mathematiker die nötigen Berechnungen durchführen soll, um die endlosen Sümpfe im Oderbruch trockenzulegen.

Norman Ohlers ‚Gleichung des Lebens‘ schildert als Kriminalroman die Trockenlegung des Oderbruchs zu Beginn der Regentschaft Friedrich des Großen. Der Autor skizziert auf 415 Seiten die Dualität zwischen Aufklärung und Wissenschaftlichkeit auf der einen Seite und Traditionsbewusstsein auf der anderen Seite, verbunden mit den auch heute bekannten diffusen Ängsten. Sprachlich zwar nicht so brillant wie Daniel Kehlmann, überzeugt Ohlers Roman durch ausgezeichnete Recherche, Detailreichtum in verspieltem Duktus und kenntnisreiche Hinweise für Anglerfreunde, ohne sich in großen Längen ergehen.

Viele wissen das nicht: Auch 250 Jahre vor Stuttgart 21 stießen Großprojekte auf wenig Gegenliebe, insbesondere dann, wenn ihr Nutzen für fraglich gehalten wurde. ‚Die Gleichung des Lebens‘ ist ein gelungener Roman, der mit Genres spielt und dadurch gewinnt, dabei die Rivalität zwischen royalen Befürwortern und machtvollen wendischen Familien wunderbar darstellt, die um ihre Lebensgrundlage fürchten. Er vereint den klassischen Krimi vor historischer Kulisse, ist gleichermaßen Proseminar-Einführungswerk in Diplomatie, Rhetorik und Deichbau und skizziert darüber hinaus  unverstellt die Schichten der feudalen Gesellschaft. Durchaus empfehlenswert insbesondere für alle jene, die einen guten (Wieder)-Einstieg zum Lesen suchen und Historie im fiktiven Gewand schätzen.

  • Gelesen im Dezember 2017
  • Empfehlung von Arne; ganz herzlichen Dank dafür!

3 Antworten auf „‚Die Gleichung des Lebens‘ von Norman Ohler

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