„Rolf und Marlies sprechen immer so laut ins Telefon, als müssen sie die Entfernung mit bloßer Kraft ihrer Stimmen überbrücken. Häufig sitzen sie zu zweit vor dem Handy, bei eingeschalteter Lautsprecherfunktion, mit dem Enthusiasmus von Spätanwendern, die wenigstens ein Geheimnis ihres Smartphones gelüftet haben. Sie benutzen auch eine gemeinsame E-Mail-Adresse, RoMa4952@web.de, und sind stolz darauf, dass die Anfangssilben ihrer Namen die Stadt ergeben, in der sie seit einigen Jahren leben“ (S. 51).
Es sind Passagen wie diese, weshalb Juli Zeh weit oben auf meiner Autorenliste rangiert. Wer ihren Humor respektive Stil nicht leiden mag, sollte Silvester allerdings besser mit den eigenen Kindern feiern. Wie ich gelernt habe, sind Kinder eindeutig die besseren Eltern. Kinder gleich Eltern 4.0 gleich state of the art. Aber wollten nicht wir das sein: die weltbesten Eltern? Und was ist mit unseren Eltern, die früher links waren und heute ihr Kreuz dennoch bei der CDU machen? Immerhin können sie so schlecht nicht gewesen sein, denn wirklich schlimm missraten sind wir (also Ihr) auch nicht. Verstanden worum es geht? Und genau das ist das Problem!
Henning, cooler Typ, dufter Papa, der klassische ‚Vielleicht-eigentlich-Typ‘. Henning möchte man gerne mit den Kids zum Spielplatz begleiten und dort ein Alster trinken. Jungssachen eben(d). Theresa ihrerseits, die Mutter seiner Kinder, etwas pushy und beruflich erfolgreicher als er, ist nicht nur ungerecht, sondern auch nervig. Klassisch der Typ herrische Mutter, den ich niemals hatte. Sobald die Kinder im Schulalter sind, wird Theresa Elternsprecherin und fortan die Lehrerinnen und Lehrer totalitär belasten – ich sehe es vor meinem geistigen Auge.
Auch weil Henning Rennrad fährt, habe ich ihn ins Herz geschlossen. Er strampelt, quält sich die Bergpässe und Serpentinen Lanzarotes hoch und dabei dachte ich bislang, Mallorca sei DIE Radfahrinsel der nördlichen Hemisphäre. Wahrscheinlich ist das auch so, denn für Henning wird sein Silvester-Radtrip zur Reise nach Mordor. Die Orks der Kindheit belagern das Minas Tirith seiner Erinnerung. Wer also bei der persönlichen Schlacht um Helms Klamm Panikattacken erlitt, hat mit Neujahr gleichzeitig einen Selbsthilferatgeber gefunden, den man unverdächtig in der U-Bahn lesen kann.
Auf 191 Seiten begleiten wir gestresste Eltern auf die Kanaren. Wir beobachten, wie sie ihr Leben mit Kindern meistern, in sentimentalen Momenten ihrem alten nachtrauern und dabei täglich ihr persönliches Neujahr feiern. Juli Zeh hat einen ganz netten, kurzweiligen Roman vorgelegt, der zwar nicht weiß, was er will, aber durch unverfälschte Direktheit besticht. Auch deshalb freue ich mich auf ihre nächste Veröffentlichung. Verkatert Neujahr ist nämlich voll Nuller-Jahre!
- Gelesen im September 2018
- Aufmerksam geworden durch eine Besprechung in der Süddeutschen.
Eine Antwort auf „‚Neujahr‘ von Juli Zeh“