‚Verwirrnis‘ von Christoph Hein

Nicht nur sein Vorname ist sonderbar – Friedeward Ringling hat es nicht leicht im Eichsfeld, einer erzkatholischen Region am Ende der Welt. Sein strenger Vater, als Lehrer ein geachteter Mann der kleinen Stadt, verfügt zum Bedauern der Kinder nur über anachronistische Methoden der Pädagogik. Friedewards Geschwister versuchen sich dem Vater zu entziehen, was ihnen mehr oder weniger gelingt. Friedeward nicht.

Plötzlich ein neuer Schüler an der Schule: Wolfgang. Eigensinnig mit intellektuellem und kulturellem Habitus. Wolfgang seinerseits, der sich nicht so recht für seine Mitmenschen zu interessieren scheint. Außer für Friedeward und so entwickelt sich eine Beziehung, die viele Jahre halten soll.

Die frühe DDR ist geprägt von Aufbruch und Zuversicht. Der Krieg ging zu Recht verloren und die sozialistische Idee kann auf deutschem Boden Wirklichkeit werden. Christoph Hein bleibt als Jahrhunderterzähler seinem Genre treu. Wie ich finde, zum Glück. Denn seine Romane erzählen Geschichten, die im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik nicht verankert sind. Wie das Literaturstudium 1957 in Leipzig verlief und welche Hoffnungen im anderen Deutschland die Protagonisten der damaligen Zeit in sich trugen, ist eben bei vielen Anderen nicht nachzulesen.

Nach ‚Trutz‘ liegt die Messlatte jedoch sehr hoch und ‚Verwirrnis‘ bleibt hinter den Erwartungen zurück. Ich hatte das Gefühl, noch gut 300 weitere Seiten lesen zu können. Nichtsdestoweniger ein lesenswerter, schwuler Roman, der überfällig war. Ich freue mich, dass Hein sich einer schwulen Thematik annahm und sie in sein übliches Setting implementierte. Emphatisch kann jeder fühlen, wie schwule Männer in der DDR lebten und liebten; wird mitgerissen vom Leben, wie es eben so spielt. Und darüber hinaus ist es für mich auch biografisch ein wichtiges Buch. Das Staatsschauspiel Dresden als Nebenschauplatz des Romas, welcher meinem Leben vorgelagert scheint. Auf 304 Seiten durchleben wir die innere Zerrissenheit eines jungen Mannes, die Hein in gewohnt nüchterner Sprache ganz unverstellt, unemotional transportiert. Friedewards Zerrissenheit wird geradezu unsere eigene. Leseempfehlung!

  • Gelesen im August 2018
  • Geburtstags’geschenk‘ von Kai – vielen Dank dafür!

4 Antworten auf „‚Verwirrnis‘ von Christoph Hein

  1. Vielleicht hatte ich das Glück, „Trutz“ nicht gelesen zu haben, als ich „Verwirrnis“ aufschlug. Deshalb so gar keine Enttäuschung oder Wertung, sondern ein Erstaunen über die Lebendigkeit dieser Chronistensprache, die kein Wort zu viel bemüht und sich gegen jede Art von Pathos sträubt. Bis zum Schluss, wo dann auf der letzten Seite plötzlich eine neue Möglichkeit zu leben aufscheint (für die Friedewart zu sehr in sich, seiner Herkunft, seiner Zeit gefangen war) und zugleich die Sprache wirkt, als schalte sie von Schwarzweiß um in Farbe.

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