‚Zonen der Angst‘ von Michael Roth

Aufgewachsen am Rande der freien Welt wurde Michael Roth zu einem überzeugten Europäer. So lautet sinngemäß die Selbstbeschreibung eines Mannes, der von 1998 bis 2025 direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages war, von 2009 bis 2021 Staatsminister für Europa und zuletzt Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses gewesen ist. Um Roths Stationen nachzulesen, braucht es nicht die Lektüre seiner Biografie ‚Zonen der Angst‘. Was Roths Erinnerungen mit dem Untertitel ‚Über Leben und Leidenschaft in der Politik‘ lesenswert werden lässt, sind die Zwischentöne und Paukenschläge aus Sicht eines Insiders, eines erfahrenen und teils ungeschickt agierenden Akteurs des bundesdeutschen Politikbetriebs über die Dauer von knapp drei Jahrzehnten.

Roth ist aufgewachsen im hessischen Grenzgebiet zur damaligen DDR. Von Heringen aus lag die Mauer nur einen Steinwurf entfernt und nicht nur seine Heimat machte ihn zum Grenzgänger. Die Nichtbeziehung zu seinem alkoholkranken Vater und einer überforderten Mutter veranlassten Roth, schnell Wege aus dieser als mehrfach erlebten Enge zu finden: Gymnasium, Abitur, politisches Engagement vor Ort, bei den Jusos, im Gemeinderat, bei seiner SPD. So Einige dürften sich darin wiedererkennen.

Der Heimat weiter verbunden, bleibt Roth in der Region, kandiert in seinem sozialdemokratisch-gewerkschaftlich geprägtem Wahlkreis und zieht in den Deutschen Bundestag ein, als dessen Sitz noch am Rhein liegt. Roths Geschichte ist die eines Aufsteigers – so unwahrscheinlich und gleichermaßen beispielhaft für unsere Demokratie.

‚Zonen der Angst‘ ist dennoch mehr als die Aneinanderreihung biografischer Ereignisse. Roth spricht offen, teilweise bedrohlich nah, über die Verheerungen seiner Kindheit, seinen gescheiterten Vater, seinen Ängsten, davon, zu scheitern, die Sehnsucht nach Anerkennung und eben jene Befunde, die als Impostor-Syndrom gut erforscht sind.

„Für das Feld der Berufspolitik hatte ich eine entscheidende Achillesverse: Mein Selbstwertgefühl war davon abhängig, wie mich andere sahen. Ich hing an ihrem Beifall und ihrer Sympathie, hatte wenig intrinsisches Selbstbewusstsein. Am Ende war ich eben das verunsicherte Arbeiterkind aus dem Dorf und der schwierigen Familie am Abgrund geblieben.“ (S. 210)

Und selbstverständlich ist Roths 297-seitige Biografie auch eine politische Einordnung und authentische Auseinandersetzung mit der SPD. Es ist der politische Lebensbericht eines Berufspolitikers, der seine Arbeit mit Empathie und klugem Gespür für die Probleme der Menschen betrieb. Nie belehrend, aber immer mit Haltung schildert der Autor sein Wirken als Wahlkreisabgeordneter, als hessischer Generalsekretär, als starke Stimme für die osteuropäischen Völker, als Befürworter der ersten Stunde für Waffenlieferung an die Ukraine – gegen den Kanzler und gegen beinahe die gesamte Fraktion. Ebenso deutlich bezieht er Stellung für jüdisches Leben in Deutschland und in der Welt mit dem Diktum, Leid dürfe nie mit anderem Leid aufgewogen werden.

Mein Fazit: ‚Zonen der Angst‘ ist ein bemerkenswert bewegendes Buch. Nur wenige Menschen in gesellschaftlichen Spitzenpositionen machen so Persönliches öffentlich, wie z.B. psychische Erkrankungen oder Situationen des Scheiterns. ‚Zonen der Angst‘ ist keine gestochen scharfe Politikanalyse à la Nils Minkmar („Der Zirkus“) oder Robin Alexander („Machtverfall“ & „Letzte Chance“). Es ist kein Thriller über nächtliche SMS-Korrespondenzen zwischen Parteigranden mit Psychogrammen von Markus Söder oder über Zufall, der gerne als politische Strategie verkauft wird.

‚Zonen der Angst‘ ist ein Herzensbuch über (politische) Herzensthemen, geschrieben mit viel Empathie von einem Menschen, dessen ganz persönliche Kämpfe und Kraftanstrengungen nur zu erahnen sind.

  • Gelesen im November 2025
  • Aufmerksam wurde ich auf das Buch durch den Beitrag von Daniel Friedrich Sturm im Tagesspiegel vom 19. September 2025.

Eine Antwort auf „‚Zonen der Angst‘ von Michael Roth

  1. Eine der angenehmsten, unter den schlauen, aber zu selten gehörten Stimmen der deutschen Politik.Schön besprochen me

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