Zunächst das Ziel klar benennen und den Inhalt in einen umfassenden Kontext stellen, im Anschluss folgen die Details. Hier also mein Fazit vorweg: Allen Unkenrufen zum Trotz ist Angela Merkels Biografie ‚Freiheit‘ eine kluge wie persönliche Retrospektive auf 70 bewegende Lebensjahre.
Selbstredend und erwartbar melden sich vorwiegend männliche Kritiker zu Wort, ob Merkels rhetorischer Sprödheit und vermeintlichen inhaltlichen Unschärfe. Und Neues gebe es auch zu wenig. Was für anmaßender Unfug! Zudem sollten eine teils hölzerne Sprache und kontroverse politische Entscheidungen nicht mit der verschriftlichten bisherigen Lebensleistung verwechselt werden. Die 719 Seiten zuzüglich Anhängen umfassende Biografie deshalb grundsätzlich abzulehnen, versperrt den Blick auf den Ereignishorizont.
Nun zu den Details: Weniger die Selbsteinordnung politischer Entscheidungen und ihre nachträgliche Rechtfertigung interessieren mich, sondern viel mehr der Mensch hinter der Kanzlerin. Wie wuchs sie auf? Wie empfand sie ihre Kindheit in Templin? Welche Haltung bewog ihren Vater, aus Hamburg weg in die DDR zu gehen? Hatte sie Freude am Lernen in der Schule und wieso entschied sie sich für ein Physikstudium in Leipzig? Diese Fragen harrten auf Antworten, die ich auch bekam.
Am meisten interessierte mich ein lebensentscheidender Unterschied, weshalb Angela Merkel – im Gegensatz zu tausenden anderen Kindern aus christlichem Elternhaus in der DDR – das Abitur ablegen durfte. Im Gegensatz zur Familie meiner Mutter ließen ihre Eltern ihr die Wahl, Thälmann-Pionier zu werden. Und sie wollte, aus nachvollziehbaren Gründen. Mit dieser Entscheidung wurde eine alles beeinflussende Weiche in Merkels Kindheit gestellt, in einem Staat,
„der seinen Bürgern und vor allem sich selbst niemals traute. So sehr, dass das Ergebnis an Kleinkariertheit, Engstirnigkeit, Geschmacklosigkeit und – ja, auch das – Humorlosigkeit, nicht zu überbieten war.“ (S. 70).
Wer auf spitzfindige, aus dem Nähkästchen geplauderte Einordnungen politischer Hintergründe hofft, wird enttäuscht werden. Auch an dieser Stelle sollte man eine Biografie nicht mit der Arbeit von Historiker:innen verwechseln. Wer ‚Freiheit‘ mit der Erwartung liest, die ostsozialisierte Frau hinter der gesamtdeutschen Politikerin kennenzulernen, wird große Freude haben.
Angela Merkel hat gemeinsam mit Partner:innen eindrucksvoll oft scharfe Klippen umschiffen müssen, um das Land und ein geeintes Europa zukunftsfest weiterzuentwickeln: Begonnen als Pressesprecherin im Demokratischen Aufbruch, über die Funktion als stellvertretende Regierungssprecherin der ersten freien DDR-Regierung, den Herausforderungen als jüngste Familien- und Jugendministerin im vereinigten Deutschland, als Umweltministerin verantwortlich für die Weltklimakonferenz 1995 bis zum Ritt durch die CDU-Spendenaffäre. Merkel leitete in ihrer ersten Kanzlerschaft die nachholende Modernisierung der CDU ein, stemmte sich gegen die Weltwirtschaftskrise, war hochumstritten in der Euro-Krise sowie im September 2015 mit ihrer historischen Entscheidung für das europäische Leitmotiv der Humanität.
Wir schaffen das war stets wertegeleitetes und pragmatisches Credo. ‚Freiheit‘ ist die umfängliche Zusammenschau bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Amt und bietet eine erstaunliche Exkursion in die jüngste Zeitgeschichte, geprägt von Merkels ganz eigenem, ungewöhnlich persönlichen Ton.
Apropos Ton: Nur an wenigen Stellen äußert sich Merkel missbilligend über Personen, z.B. erfährt Horst Seehofer diese zweifelhafte Ehre. Ähnlich hält Merkel es mit der Bewertung eigener Entscheidungen. Einerseits ist das erwartbar und andererseits falsch. Es gab immer Alternativen, die Merkels stellenweise sehr wohlfeil relativiert.
Gewünscht hätte ich mir auch eine noch stärkere Einordnung aktueller innen- und weltpolitischer Großwetterlagen. Den besonderen Wert unserer Demokratie und der Freiheit – siehe Buchtitel – stellt die Bundeskanzlerin a.D. vehement heraus. Die Bewertung ihre Entscheidungen in Hinblick auf zukünftige Generationen nimmt sie vergleichsweise selten vor, aber immerhin:
„Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt bleibt für mich die Frage unbeantwortet, ob wir Menschen tatsächlich willens und in der Lage sind, im Sinne der Vorsorge den Warnungen des Weltklimarates und anderer ernst zu nehmenden Experten gerecht zu werden und die notwendigen Entscheidungen für unser Überleben rechtzeitig zu treffen. Bisher ist der Beweis dafür noch nicht erbracht, weder im eigenen Land noch in der Weltgemeinschaft. Diese Feststellung lastet schwer auf uns, mich eingeschlossen.“ (S. 618f.)
Es sind diese typischen Merkel’schen Sätze, etwas kompliziert und auch stilistisch nicht wirklich gelungen, deren Inhalt aber ‚Freiheit‘ lesenswert machen. Denn Politik ist nie wertfrei. Angela Merkels politisches Handeln war es ebenfalls nie. Mit ernstgemeinter Aufrichtigkeit schreibt sie im Lichte einer wenig hoffnungsvollen Zukunft, was sie motivierte, leitete, antrieb. Ihre letzte vielzitierte Rede als CDU-Parteivorsitzende schloss sie mit den Worten:
„Die Zukunft gut gestalten, können wir nur, wenn wir uns nicht mit Missmut, mit Missgunst, mit Pessimismus, sondern immer mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen. So habe ich es immer für mich gehalten, in meinem Leben in der DDR und erst recht und umso mehr unter den Bedingungen der Freiheit. Es ist die Fröhlichkeit im Herzen, die ich meiner Partei auch für die Zukunft wünsche.“ (S. 668)
Als Demokrat wünsche auch ich der CDU diese Fröhlichkeit im Herzen. Heute ist die Union unter Friedrich Merz ein verstocktes Altherrenabziehbild eines nie dagewesenen westdeutschen 80er-Jahre-Wohlfühlparadieses. Nicht Verrohung und Polarisierung sind der Weg durch das von Merkel oft beschriebene Nadelöhr, sondern Kompromissbereitschaft.
Insbesondere als SPD-Mitglied kritisierte ich Merkels Politik oft und verbissen. Nach der Lektüre ihrer Memoiren erscheint vieles schlüssiger, notwendig, stellenweise versöhnlich. 600 Seiten vor ihrer zitierten Abschiedsrede beschreibt Angela Merkel ihre Unbekümmertheit, die sie sich in der DDR trotz aller Widrigkeiten immer bewahren wollte. Dass sie sich diese Unbekümmertheit und ihr freundliche Gesicht nach 16 Jahren Kanzlerschaft und einer 35-jährigen eindrucksvollen Karriere tatsächlich bewahrt hat, ist absolut keine Selbstverständlichkeit!
- Gelesen im Dezember 2024