Ahne ist zehn oder zwölf, als er mit seiner Familie nach Karlshorst zieht. Die ersten Jahre in der Schule sind kein Zuckerschlecken. Gar nicht des Unterrichts wegen oder der vielen Dinge, die es zu lernen gilt. Ahne, der eigentlich Arne heißt, hadert mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Und mit sich. Tue dies, tue das, sei so und so. Dabei träumt sich Ahne viel lieber in eine Welt, die er entwirft, geistig skizziert, größer und größer werden lässt. Ein ideales Traumreich mit Ländern auf einem Kontinent, der nach ihm benannt ist.
Mit der Zeit finden sich Freunde in Karlshorst. Das ist gut und gibt Halt. Denn Ahnes Vater verlässt die Familie. Scheidungen waren dort zu jener Zeit viel üblicher als in Westdeutschland. Plötzlich fühlt Ahne eine ungekannte Verantwortung für seine Mutter als Mann in der Familie. Mehr und mehr oszilliert der Alltag zwischen Schule, Freunden und der Suche nach einer Aufgabe über den Trott hinaus, irgendein Talent wäre super. Irgendetwas kann jeder, denkt er und beginnt zu dichten, verfeinert seine Texte. Eigentlich will er sich treiben lassen wie eine Seegurke – was für ein schöner Gedanke. Wenn sich die Welt nur nicht so schnell drehen würde mit all ihren Anforderungen. Berufswünsche eingrenzen, Lehrbetrieb finden, genommen werden und möglichst spät zur Fahne müssen.
„Was aber käme danach? Würde ich als Drucker arbeiten? In einem Beruf, der mir keinerlei Spaß machte? Gut, wem macht die Arbeit schon Spaß? Man könnte in den Alkohol flüchten. Eine Laubenlandparzelle beackern und im Sommer an die Ostsee fahren. Dicht gedrängt Sandburgen bauen, bis man starb. Aufgabe erfüllt. Leben abgehakt.“ (S. 162)
Aufgabe erfüllt und das Leben abgehakt? Es kam anders, ganz anders und davon erzählt Ahne in seinem autobiografischen Roman ‚Wie ich einmal lebte‘. Die ersten 20 Jahre verlebt der Autor in der Hauptstadt der DDR. Nahezu prototypisch steht Ahnes Weg für den Werdegang, wie er im Arbeiter- und Bauerstaat für Millionen vorgesehen war. Und gerade diese Geschichten sind die große Stärke des Romans. Nicht nur als Zeitzeugendokument, sondern durch ihr schelmisches Augenzwinkern und den pragmatischen Umgang in einem System, das Individualismus ablehnt und brechen wollte, das zunehmend Angst hatte vor Progressivem, Subversivem. Vor allem, was nicht unauffällig in gedeckten Farben brav Männchen machte.
‚Wie ich einmal lebte‘ ist eine Zeitkapsel auf 269 Seiten. Viele Episoden ähneln Geschichten, wie ich sie kenne und wie sie ostdeutsche Identität prägten. Als literarische Referenz kam mir direkt ‚Geboren am 13. August‘ von Jens Bisky in den Sinn, insbesondere wie er die Armeezeit erlebte. Und natürlich mein alter Freund Arne – gleicher Name, kein Witz –, der der Protagonist des Romans hätte sein können.
‚Wie ich einmal lebte‘ ist ein Roman der Alltagsmomente, der kleinen Gesten, des Widerstands, der dialektischen Suche nach den Widersprüchen und der Frage, wie man trotz allem ein gutes Leben führen kann. Mein Fazit: imperialistisch-antisozialistische Zersetzung! Großartig.
- Gelesen im März 2024
- Mal wieder ein schöner Zufallsfund in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.