‚Lichtungen‘ von Iris Wolff

Als sich die Fähre dem Festland nähert, ahnt Kato längst, was Lev beschäftigt. Weiterziehen, aufbrechen, man müsse bereit sein, loszulassen. Auch wenn man gerade erst ankam, fragt Lev und Kato, die sich hat treiben lassen durch die Städte Europas, bejaht. Ob sie ihn begleiten würde, fragt Lev. Stille, Ausweichen, das Tagwerk und die Arbeit im Blick. Ein plötzliches Ja zerreißt das Schweigen. Sie komme mit, antwortet Kato gerade heraus. Auf Nachfrage bekräftigt Kato, dass sie Lev nach Hause in ihr rumänisches Dorf begleiten wird. Und die Reise beginnt.

„Obwohl es ihm einen Stich versetzte, gab er ihr recht. Es gab ein Früher, in dem sie fast alles voneinander gewusst hatten, und das, was jetzt war, musste sich den Vergleich damit verfallen lassen.“ (S. 36)

Dieser Endpunkt markiert den Ausgangspunkt für Iris Wolffs Wanderung durch die jüngere rumänische Geschichte. Seit Kindheitstagen kennen sich die beiden Hauptfiguren Lev und Kato. Während Levs langer Krankheit lernten sie sich kennen und freundeten sich an. Kato, eine Außenseiterin in der Schule, versorgte Lev mit Hausaufgaben, Büchern und guten Gedanken. Geboren und aufgewachsen im kommunistischen Vielvölkerstaat stehen beide stellvertretend für den Gang der Geschichten. Während Lev die (groß)-elterliche Tradition der Wald- und Forstwirtschaft fortführt, beschließt Kato, ihrem inneren Wunsch nachzugeben, nach Auf- und Ausbruch, und geht.

In ihrem aktuellen Roman ‚Lichtungen‘ wählt Iris Wolff den rückwärtigen Weg. Sie begibt sich hinein in die Zeit der Ceaușescu-Diktatur, öffnet alte Kapitel, erforscht, was war, um zu verstehen, wie es wurde. Neun Kapitel handeln von Levs Blick auf und in die Welt, den Fokus auf Kato gerichtet, die Mutter Lis, den Großvater Ferry – in dieser Reihenfolge. Es sind die Schritte zurück, die von Entfremdung erzählen, von Verletzungen und vom Verlassensein, von Liebe, vom Überwinden innerer und äußerer Widerstände.

Sind es die Wirren der 90er Jahre, das Ende der Diktatur, alte Freunde und Freunde der Securitate, der Militärdienst oder das große Glück der kleinen Kindheit. Mit hoher Tiefenschärfe wählt Wolff Fragmente, die für das Ganze beispielhaft stehen. Wie das Land und seine Landschaften setzt die Autorin Wegmarken – Lichtungen im dichten Unterholz. Im gleichen poetischen Stil wie ‚Die Unschärfe der Welt‘ verfasst, wählt Wolff mit seltener Sensibilität eine Sprache, die auf 254 Seiten kapitelweise mal sommerlich-warm, mal in herbstlichen Tönen, mal winterlich frostig-weiß alles Menschliche, Emotionale, Unwirtliche und Wünschenswerte zu einem wunderbaren Roman vereint.

„Bei einer siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem russischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach […] Zugehörigkeit, sagte Ferry, ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.“ (S. 232)

Es sind die Farben und Schattierungen, die ‚Lichtungen‘ zu einem Erlebnis werden lassen. Zu einem Roman, der die Vielfalt betont, der behutsam erzählt, Fragen stellt und das Urteil den Lesenden überlässt. Der Identität nicht mit Zugehörigkeit verwechselt und dabei das Werden wie das Sein der Protagonist:innen wertschätzt. Mein Fazit: Ein wunderbares europäisches Portrait.

  • Gelesen im Februar 2024
  • Aufmerksam wurde ich auf den Roman durch einen Beitrag auf Deutschlandradio Kultur vom 11. Januar 2024.

Eine Antwort auf „‚Lichtungen‘ von Iris Wolff

Hinterlasse einen Kommentar