Zivilisatorisch betrachtet ist das Bild mistgabelbewehrter Landwirte kein neues. Schon Thomas Müntzer meinte seinerzeit als Theologe, Reformator, Drucker und Revolutionär zu wissen, was des Bauernvolkes Wille sei und wie man ihn durchsetzen müsse. 500 Jahre nach der Niederschlagung des Bauernkrieges setzen sich die Nachfahren der damaligen Protagonist:innen mit Gadgets des 21. Jahrhunderts erneut gegen Die da oben zur Wehr. Öffentliche wie veröffentlichte Meinung überschlagen sich daraufhin mit Entgrenzungsbehauptungen, überschrittenen roten Linien, rufen nach der vollen Härte des Rechtsstaats und verwenden dabei dezidiert eine aggressive Kriegsrhetorik, die trotz ultrahochpolierter Instagram-Reels das Fürchten lehrt.
Der Angriff auf Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck an einem nordfriesischem Fähranleger veranschaulicht die seit Jahren diagnostizierte zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Lager, die sich mehr oder minder unversöhnlich gegenüberstehen, bewerfen sich digital mit Gülle und wetzen andernorts bereits ganz real ihre Mistgabeln. Hält diese Behauptung auch einer sozialwissenschaftlichen Analyse stand, unter deren Lupe vieles schärfer nuanciert und konturiert erscheint? Lassen sich Spaltungstendenzen und möglicherweise bereits verfestigte Konfliktlinien empirisch nachweisen oder reagieren bestimmte soziale Milieus als Klasse nur besonders sensibel auf Triggerpunkte?
„Wir entwickeln dabei die Leitthese, dass die Dynamik der Triggerpunkte deshalb so wirksam ist, weil diese in einer Unterstruktur moralischer Überzeugungen, Selbstverständnisse, Alltagskosmologien und Rechtfertigungsmuster verankert sind, die im Sinne eines „impliziten Gesellschaftsvertrags“ […] als selbstverständlich wirksam sind.“ (S. 247 f.)
Die Frage nach Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft ist Ausgangspunkt des 420 Seiten zuzüglich 110 Seiten Anmerkungen umfassenden Sachbuchs ‚Triggerpunkte‘ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. Die Autoren entwickeln die Marx’sche Klassentheorie sowie die gängige Cleavage-Theorie weiter und machen sie für aktuelle Gesellschaftslagen fruchtbar. Unter Klasse werden demnach soziale Gruppen verstanden, die aufgrund besonderer sozioökonomischer Lagen Überzeugungen teilen, die zu politischer Interessensvertretung führen – bspw. durch Parteien.
Bildeten bis zum Ende der alten Industriegesellschaft Kapital und Arbeit die wichtigste Determinante, sind es nach Diagnose der Autoren in der postmodernen Wissensgesellschaft vier Kernarenen, in denen Ungleichheiten und Konflikte verhandelt werden: erstens die Oben-Unten-Arena, die nach wie vor Einkommens- und Besitzverhältnisse verhandelt; zweitens die Innen-Außen-Arena, deren Thema allgegenwärtige Migrationsbewegungen sind; drittens die Wir-Sie-Arena, die Facetten der Identitätspolitik zum Gegenstand hat sowie viertens die Heute-Morgen-Arena, in der zunehmend polarisierend um die Bewältigung der Klimakrise gestritten wird. Ihr analytisches Werkzeug als Wünschelrute im Sumpf sozialer Tiefenstrukturen bezeichnen die Drei als Triggerpunkte, die konsensualen Überzeugungen affektiv aufbrechen und das emotionale Fass sintflutartig zum Überlaufen bringen. Stichworte wären SUV-Fahrende, Klimaaktivist:innen, Grünen- oder AfD-Wählende, Transgenderpersonen sowie der alte weiße Mann.
Bereits in der Einleitung ihres Werks schreiben die Autoren, dass von einer mehrheitlichen und insbesondere unversöhnlichen gesellschaftlichen Spaltung in unterschiedliche Lager nicht die Rede sein kann. Die USA als medial verwendete Referenz ist in ihrer Ausprägung untauglich. Nichtsdestotrotz sagt das gesunde Bauchgefühl, dass Stimmungen aggressiver werden, Dynamiken schneller Kipppunkte erreichen und die allgemeine Ambiguitätstoleranz abnimmt. Trotz breiter Konsense, die gleichzeitig das feste Fundament einer Gesellschaft bilden, erodieren die Ränder.
„Gerade für das Thema Klimapolitik legt dies den Schluss nahe, dass die affektive Polarisierung zwischen sozialstrukturellen Klassen größer sein könnte als die ideologische Polarisierung ihrer Einstellungen. Nach dem Motto: Klimaschutz ja, Klimaschützer und Grüne nein danke.“ (S. 333)
‚Triggerpunkte‘ ist die Gesellschaftsdiagnose im Superwahljahr 2024. Mehrere Fokusgruppengespräche, repräsentative Umfragen sowie bspw. die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) führen ausgewertet zu Ergebnissen, die zeigen, was die deutsche Gemütswelt im Innersten zusammenhält.
Mau, Lux und Westheuser gliedern ihr Werk in elf Kapitel, die klar strukturiert und fern von (zu) stereotypen Zuschreibungen komplex, aber gut verständlich ihre Thesen, Daten, Analysewerkzeuge und Ergebnisse erläutern. ‚Triggerpunkte‘ ist ein Sachbuch, das als Fachlektüre überaus lohnenswert ist. Gleichzeitig bieten ausführliche Herleitungen einem breitem Publikum Zugang, ohne ermüdend oder unnötig redundant zu sein. Denn die Autoren trennen die vermeintlichen Echokammern als Perzeptionswirklichkeit von der realen Wirklichkeit, wie wir sie am Küchentisch, in der U-Bahn, im Radio oder an der Supermarktkasse wiederfinden – mit allem Explosionspotenzial auf der nächsten Familienfeier.
‚Triggerpunkte‘ ist ein außerordentlich lesenswertes Sachbuch, das erhellt, in gewisser Weise beruhigt, das teils Obacht an der Bahnsteigkante ruft und erläutert, wieso der weiße alte Mann in der postulierten Form in Deutschland nicht existiert.
- Gelesen im Dezember 2023
- Aufmerksam geworden durch das Interview mit Linus Westheuser am 7. Oktober 2023 auf radioeins.
Eine Antwort auf „‚Triggerpunkte‘ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser“