‚Sauhund‘ von Lion Christ

„Mei, Flori, was hasts nu schoa wieder fürn Schmarrn oagestellt?“, sagt die Stimme aus dem Off. Die Mutter am Gängeln, die Wolfratshauser Enge lastet erdrückend schwer auf der 20 Jahre alten Brust. Schnell schön werden sollst du, Bub, sagt Flori wie in Trance zu sich selbst. Schön werden und schnell fort von hier. Groß rauskommen, das Leben leben. Nicht mehr mit dem Gregor heimlich raus fahren in den Wald. Auf der Rückbank schnell die Hose geöffnet und runter mit dem Kopf. Sacht zwar, aber schon mit Nachdruck. Hätte Frau Eichinger im Wolfratshauser Altenheim ihm nicht Mut zu gesprochen und gesagt: „…auf großen Bühnen sollst du spielen, singen, tanzen – das Publikum gehört dir!“ – ob Flori wirklich Reißaus genommen hätte, weiß nur der liebe Herrgott alleine.

Nun steht er am Stachus im Untergeschoss vom Sendlinger Tor und wartet. Wartet allein, ja worauf? Dass der Sommer vorbei geht? Schon fallen die ersten Blätter, wie Regen auf blanken Asphalt, während die Straßenlaternen anspringen und den Weg leuchten rüber ins Glockenbachviertel, dem Flori magisch folgt. Singen, Tanzen, hoch die Gläser. So soll das Leben sein ohne Unterlass, ohne Kummer und Gedanken an Morgen. Im Rausch jede Sekunde verschwenden, selbst wenn noch immer kein Schlafplatz in Sicht ist für die Nacht. Kommt Sekt, kommt Rat, und aus der Jukebox singt Petula Clark: „When you’re alone and life is making you lonely you can always go downtown.” Und das alles in München, 1983.

“Am Gärtnerplatz flirrt die Luft vor Betriebsamkeit, die halbe Stadt scheint sich heute Abend hier versammelt zu haben […] Ich bin furchtbar erleichtert, heute Nacht nochmal rausgegangen und nicht mehr in Theresas Wohnung eingesperrt zu sein. Das hier ist das wahre Leben, Flori, dafür bist du geboren.“ (S. 174f.)

Mei, bist du das Flori? Geboren für die Herren, Typ Stadtsparkasse? Blitzeblank und völlig pleite sitzt Flori, Traumtänzer und Protagonist in Lion Christs Debütroman ‚Sauhund‘ am Tresen stadtbekannter Bars. Es ist die Zeit, zu der München Zufluchtsort war für viele. Lion Christ wählt als Handlungsrahmen diese vielleicht offensten, freizügigsten Jahre an der Isar. Als Freddie Mercury dort die Zeit vergaß und – wie Flori – die Nacht zum Tag machte. Gleichzeitig ist es die Zeit der ersten AIDS-Infektionen in Deutschland, in München. Die Angst schwingt mit auf den Klappen der Stadt. Ein schmaler Grat zwischen unbeschwerter Leichtigkeit und zunehmenden Beklemmung, dem eigenen Absturz und beherztem Aufstehen, Krone richten, weitertanzen.

Die Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts brauchen kein Denkmal, zu dem der Klappentext ‚Sauhund‘ proklamiert. Wozu diese überhohe Messlatte, Denkmäler werden beschmiert, gestützt, vergessen. ‚Sauhund‘ ist dennoch ein bezaubernder Roman mit einem Protagonisten und Ich-Erzähler, der fortläuft, rennt, getrieben ist von der Suche nach sich selbst und einem Ort, der es wert ist, anzukommen und zu bleiben. ‚Sauhund‘ erzählt die Geschichte schwuler respektive queerer Solidarität ganz ähnlich wie ‚Das Vermächtnis‘ und ist ein Roman, der berührt, aufweckt, in Erinnerung ruft und kollektives Gedächtnis speist. Ein Roman, der sprachlich stringent geschrieben ist, wenngleich seine bajuwarisch inspirierte Sprache irritiert. Andererseits und gerade deswegen öffnet der Autor Räume, zeichnet Bilder einer Stadt vor 40 Jahren, in der junge Menschen auf ihrer Suche ein Zuhause finden. Ach, Sauhund, Flori, unterhaken will man dich. Und liebhaben, gell.

  • Gelesen im September 2023
  • Hab vielen Dank, lieber Jakob, für deine wunderbare Empfehlung. Ich empfehle sie gerne weiter.

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