‚Isidor‘ von Shelly Kupferberg

Ein kleines Schtetl in Ostgalizien. Hier beginnt 1886 der American Dream auf Österreichisch für Dr. Isidor Geller, der in bitterer Armut erwächst, die Talmud-Schule besucht und unter dem strengen Regime seines Vaters – von Beruf Rabbiner – leidet, rebelliert, ausbricht und sich aufmacht. Aufmacht über Lemberg, wo er studiert und seinem großen Bruder später folgt, nach Wien. Hoch hinaus soll es gehen in der k.u.k. Metropole.

Isidor, der ursprünglich Israel heißt und seine elterliche Herkunft als hinderlich empfindet für den Aufstieg, die Karriere und gesellschaftlicher Teilhabe in den höchsten Kreisen des österreichischen Staates, wechselt seinen Namen, verlässt die Universität mit Prädikat, promiviert in Recht und knüpft rasch Kontakte in die Welt der Wirtschaft, Politik und Kultur – immer darauf bedacht, die Seinen zu unterstützen, ihnen Wege zu bahnen, im besten Sinne unter die Arme zu greifen.

„1918 war der Krieg beendet, das Habsburgerreich zerschlagen, das Imperium schrumpfte auf die geografische Größe einer Erbse zusammen, der Vielvölkerstaat war Geschichte – und mein Urgroßonkel mehrfacher Millionär.“ (S. 72)

Wenn die erste Million die schwerste ist, war Kommerzialrat Dr. Isidor Geller mit 32 Jahren Gallonen schwer und ein gemachter Mann. Wie der gewitzte, kluge und nicht weniger gewiefte Opernliebhaber es bis nach ganz oben schaffte, darüber schreibt Shelly Kupferberg in ihrem Debüt auf 256 Seiten. ‚Isidor‘ besticht auf vielerlei Weise, ist weder Roman noch Erzählung, aber dafür eine hervorragend recherchierte Biografiearbeit, die kulturhistorisch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowohl in Galizien als auch in Wien mit allen Umbrüchen ganz wunderbar darstellt und kontextualisiert. Zwar steht der tatsächliche Lebensweg des Protagonisten im Zentrum der Handlung, interessanter und gleichsam denkwürdig sind allerdings die Umbrüche und Zeichen der Zeit, die Isidor wie seine Familie wiederholt verkennen.

Ismen verschiedener Couleur folgen einer immer gleichen soziologischen Logik. Shelly Kupferberg rekonstruiert auf Grundlage alter Brief ihres Großvaters sowie offizieller Dokumente über den Urgroßonkel aus verschiedensten Archiven, den sich galoppierend radikalisierenden Antisemitismus in Österreich und darüber hinaus. Mit bedrückenden, teils schwer auszuhaltenden authentischen Zeitdokumenten aus den 20er und 30er Jahren steuert Kupferberg inhaltlich auf das gesellschaftliche Zugrunderichten ihrer Familie nach 1838 zu, was schließlich in der Ermordung von sechs Millionen jüdischen Menschen endet.

‚Isidor‘ ist ein Buch, das sowohl Biografie als auch Lehrbuch ist. Durch Wechsel in Perspektive und Zeit gelingt Kupferberg ein geschickt montiertes Sittengemälde, das sprachlich ganz leichtfüßig mitnimmt auf die Ringstraße und in den 1. Wiener Bezirk. Wenn auch der Inhalt harter Tobak und alles andere ist als leichte Kost, atmet ‚Isidor‘ die vielen bunten Gerüche jüdischen Lebens Mittel- und Osteuropas von vor über 100 Jahren. Ein bewegendes Buch über den Aufstieg und die Vernichtung eines schillernden Mannes am zweimaligen Vorabend beider Weltkriege.

  • Gelesen im Juni 2023
  • Vielen Dank, lieber Patrick, für dein Geschenk.

Hinterlasse einen Kommentar