David Win wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter in einer Kleinstadt in Südengland auf. Seinen burmesischen Vater lernt er nie kennen. Seine Chancen in der konservativen Provinz wären nicht die besten gewesen, erhielte er nicht Anfang der 60er Jahre das Hadlow-Stipendium, das ihm die Ausbildung an einem ehrwürdigem Eliteinternat ermöglicht. Jährlich lädt die Stifterfamilie Stipendiaten auf ihren Landsitz unweit der Schule ein und der 13-jährigen David betritt damit eine Welt, in der alle Türen offenstehen. Hier beginnt die Handlung von Alan Hollinghursts aktuellem Roman ‚Unsere Abende‘.
Die Downs, die seichte Hügellandschaft zwischen London und allem, was westwärts davon nach Tee und Keksen duftet, ist und bleibt Anker in Davids Leben. Aber er erkennt und nutzt die Chance, die ihm geboten wird. Er absolviert die Schule, macht seinen Abschluss, geht nach Oxford, landet schließlich, wenn auch holprig, in London und pendelt die nächsten 40 Jahre immer und immer wieder zwischen der Metropole mit ihren Vorzügen und den Downs mit seiner Mutter.
Bereits seit Schultagen ist Giles sein fortwährender Antagonist, Sohn von Mark Hadlow, Stifter des Stipendiums und ein allgemein linksplutokratischer Mäzen. Während David am Theater große Erfolge erringt, macht Giles anderswo Karriere. Bevor er in die Politik geht, will er Geld verdienen. Giles steht für ein anderes England und einen anderen Weg. Er wird zunehmend Symbol einer britischen Alternativ zu Liberalität und Toleranz. Giles, die Chiffre des tief verwurzelten Klassendenkens und dem inhärenten Rassismus des untergegangenen Empires.
„Ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Giles für viele andere, Millionen andere, die Bedeutung eines führenden Politikers hatte […] Vielleicht war es auf meine Beschränktheit zurückzuführen, dass ich ihn nicht anders sehen konnte als einen jugendlichen Sadisten, dass genau dies die Essenz seines Wesens ausmachte: ein verzogener, nägelkauender Bengel, den kein Mensch jemals ernst nehmen konnte.“ (S. 513)
Soviel vorweg: Ich bin kein Kenner Englands und bin nie dort gewesen. Was ich weiß, ist aus zweiter Hand. Mit dieser Perspektive habe ich ‚Unsere Abende‘ gelesen. Nach 616 Seiten sehe ich all das bestätigt, was stereotyp als britisch gilt. Doch ‚Unsere Abende‘ ist kein Kitsch und kein Klischee. Hollinghurst ist sich und seinem Sujet treu geblieben: Mit seinem Gespür für Macht, Konventionen, Herkunft und Klassenfragen erzählt er ‚Unsere Abende‘ retrospektiv im Lichte des Brexits, mehrschichtig und als stiller Beobachter.
Sein Protagonist und Ich-Erzähler David – farbig, schwul, erfolgreicher Schauspieler – steht nur vordergründig für die kritische Betrachtung des Autors auf die Menschen und die Region, aus der er stammt. Die omnipräsente Hintergrundhandlung beschreibt den Weg Großbritanniens aus der EU. Welche Motive grassieren? Welche Akteure paktieren? Welche Meinungen und Haltungen manövrieren die Mehrheit letztlich zu einer Entscheidung, deren Treiber eine kleine privilegierte Oberschicht ist?
Ernüchternd ist, dass Hollinghurst in seinem autofiktionalen Roman eine Geschichte erzählt, die ganz real ist und pfadabhängig verläuft. Die nicht zwangsläufig, sondern akteursabhängig ist. Wir sind die Akteure – David und Giles sind nur Fiktion widerstreitender Strömungen. Allein dadurch wird ‚Unsere Abende‘ bedrückend und unmittelbar relevant – anders als erwartet.
‚Unsere Abende‘ ist ein Roman, der Erwartungen erfüllt und Träume einreißt. Für den man Zeit braucht und der sich Zeit nimmt. Ein Roman, der von der Liebe zwischen Männern erzählt – natürlich. Und der Liebe zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn handelt. Ein Roman als Rückschau eines schwulen Mannes, der gleichzeitig die gesellschaftliche Entwicklung über Jahrzehnte dokumentiert bis alle alten Ideale begraben sind.
Mein Fazit: Unbedingt lesen. Wer mit diesem Roman fertig ist, weiß, wie viel auf dem Spiel steht.
- Gelesen im Dezember 2025
- Und hier die Besprechung von Gustav Seibt aus der Süddeutschen Zeitung, die mich bestärkte, dieses Roman in Ruhe zu Weihnachten zu lesen.