Diese schöne Stadt ist eine, die alles hat. Elegant schmiegt sie sich an dem langen Hang zur Altstadt hinauf, mit seinem Münster, den alten Gassen und Fachwerkhäusern, 300, 400, 500 Jahre alt. Das Stadttor an der alten Brücke, wo die Kaiserstraße hinüber in die Neustadt führt und die Elektrische quietschend vor dem Lichtspielhaus hält. Lothar auf seinem Fahrrad hat das Wettrennen erneut mit der Straßenbahn gewonnen. Gut, dass seine Mutter längst in der Buchhandlung zur Arbeit ist. Schräg gegenüber, in der Redaktion vom Ginsterburger Anzeiger, schaut Eugen dem Jungen zu und blickt weiter zur Doppelkuppel des Bahnhofs, über das Gewerbegebiet hinweg zu den weitenläufigen Auen am Fluss. Die Maschinen laufen, die Schornsteine fauchen.
Diese Stadt hat alles, was Otto Gürckel braucht für seine Pläne. Vom Blumenzüchter zum Bürgermeister und Kreisleiter hat er es gebracht. Das sind herrliche Zeiten. Ob Bürger oder Volksgenosse, die Leute kümmert es einen Dreck, Hauptsache der Laden läuft wieder. Nun gilt es, Weggefährten unter die Arme zu greifen und den rechten Weg zu weisen. Eugen von Wieland mit seinen Feuilletons muss Schriftleiter werden. Der alte Landauer hat Platz gemacht. Opfer müssen gebracht werden. Es sind große Zeiten in Ginsterburg.
„Kein Wunder, dass er bei dieser verschrobenen Lebensweise das Wesentliche nicht mitbekommen, sich dem Wesentlichen nicht widmen konnte […] Nicht einmal der Partei war er bisher beigetreten. Der Zug war längst angefahren und alle Welt aufgesprungen […] Nur ihr Göttergatte, der feinsinnige Herr Redakteur, der ging lieber weiter zu Fuß. Andere Männer machten Karriere. Eugen machte sich Notizen.“ (S. 144)
Ein Kleinstadtepos? – ganz im Gegenteil. ‚Ginsterburg‘ handelt auf 428 Seiten davon, was vor 90 Jahren in diesem schönen Land geschah. Einem Land, das vor Kränkung und neuer Potenz kaum laufen konnte. In drei Teilen entwirft Arno Frank eine Gesellschaftsskizze anhand der fiktiven, titelgebenden Stadt Ginsterburg. Jeder Teil ist einem Jahr gewidmet: 1935, 1940 und 1945. 1935, als manches neu und vieles anders wurde: die Kleidung der Kinder, die Bücher, die Filme, die Besetzung der Chefetagen und Wohnungen nebenan. 1940, als die Kinder zu jungen Erwachsenen geworden waren und Mädchen wie Mütter ohne Unterlass von deutschen Helden träumten, in der Luft, bei den Booten, bei den Panzern. Schließlich 1945, als die Helden im Krieg geblieben sind, und nichts mehr übrig ist von alldem.
„Wenn all diese Feuer einen Herd haben, dann liegt er dort. Wenn all diese Brände sich zu einem Ereignis vereinigen, dann dort. Wenn diese Geschichte ein Ende finden will, dann dort […] Die Fachwerkhäuser brennen, wie nur Fachwerkhäuser brennen können. Kein Stein. Das Feuer nimmt alles, was es finden kann, und zieht es gierig nach oben weg in einen unsichtbaren Kamin, den es sich selbst geschaffen hat. Die Häuser sind nur noch glühende Gerippe aus lodernden Balken. Röntgenhäuser. Funkenhäuser. Die ganze Altstadt in schwerelosem Aufstieg, Auflösung und Hitze.“ (S. 427)
Arno Frank hat mit ‚Ginsterburg‘ einen bemerkenswerten Roman geschaffen. In drei sich überlagernden Zeitebenen begleitet er ganz unterschiedliche, prototypische Figuren durch ihr Leben, bis zum Ende. Seine Protaganist:innen sind hoffnungsvolle Kinder, kleinbürgerliche Fanatiker:innen, belesene und gelangweilte Mütter, pragmatische Unternehmer, Nachbar:innen alter Schule – Menschen. Frank schattiert in vielen Farben, wie man sich arrangiert, weg duckt, wie man Karriere macht bei aller Freund- und Feindschaft, wie Liebe wächst und Familienband wächst und hält – oder reißt.
‚Ginsterburg‘ ist auch deswegen bemerkenswert, weil jener Farbreichtum stilistisch in Sprache und Form widerhallt. Er zoomt hinein in die Herzen der Menschen von Ginsterburg und vergrößert Miniaturen zu einem possierlich-monströsem Wimmelbild. Bei alledem hebt der Autor nicht den Zeigefinger. Jede:r darf sich selbst prüfen, welche Rolle ihr oder ihm die liebste sei – auch für die ganz eigene, persönliche Zukunft.
- Gelesen im März 2025.
- Aufmerksam wurde ich auf den Roman durch die ebenfalls bemerkenswerte Besprechung von Bernhard Heckler aus der Süddeutschen vom 14. Februar 2025.