Unten liegt Dresden im Tal der Ahnungslosen und oben auf dem südlichen Elbhang verlebt Karin ihre Kindheit und frühe Jugend – in Gittersee. Gittersee ist eine Klitsche die niemand kennt oder kennen muss. Außer Wickwalz vielleicht, der als schneidiger Jungkader nun Schild und Schwert der Partei ist im Kampf für den Frieden. Karin findet ihn gut, fühlt sich hingezogen, ohne es direkt benennen zu können. Aber papperlapapp, väterliche Zuneigung hin oder her. Sie hat Paul und sie ist glücklich mit Paul.
Die Zeit ist dennoch schwierig, wenige Monate vor dem Schulabschluss. Was machen? Und wohin? Im Chaos einer ungewissen Zukunft – Karin findet Schule nicht so richtig gut – verschwindet Paul. Spurlos. Gesagt hat er kein Wörtchen, nichts. Nur kurz fort wolle er nach Tschechien zur Sonnenwendfeier mit Rühle, und später noch klettern in den Bergen. Daraus wird nichts, denn nur Rühle kommt zurück.
Wickwalz hier, Wickwalz da. Plötzlich stellt er Karin Fragen – was wusstest du? Die Genoss:innen sind unsicher, ob nicht Anklage erhoben wird wegen Beihilfe zur Republikflucht. Republikflucht, fragt Karin.
„Entscheiden musst du dich, auf welcher Seite du stehen willst, Karin. Das weißt du, ja? Die Wahrheit musst du sagen. Auch für deine Mutti und deine Freundin Marie, die doch nach Berlin will, Karin.“
Die Süd-DDR 1976 und die 16-jährige Karin mittendrin. Coming-of-Age auf sozialistisch: geradlinig, schabloniert, humorlos. Dieser Beschreibung folgt Leonie Rebensteins Inszenierung des mehrfach prämierten Romans ‚Gittersee‘ von Charlotte Gneuß am Berliner Ensembles. Das ist sehr schade, denn der Roman bietet durch seine konzentrierte Reduktion und simple wie kluge Vor- und Rückblende enormen Spielraum zur dramaturgischen Entwicklung. Sehr nah am Text verharrt Rebensteins Arbeit doch an der Oberfläche und verschenkt das möglich gewesene Charakterspiel aller Protagonist:innen. Die Nazi-Oma (Rahel Ohm) wirkt fast liebenswert und Wickwalz (Paul Herwig), der im Roman gut und gerne als verwegen durchgehen kann, wird zum blassen Täter in gedeckten Farben.
Was der Inszenierung an Esprit fehlt, gibt das Ensemble in ihre Rollen, insbesondere Amelie Willberg als Karin. Empathisch und leidenschaftlich verkörpert sie die verhärtete und zugleich zerrissene Protagonistin, die sich sehnt nach Anerkennung und Zuneigung. Im ambivalenten Auf und Ab fliegt sie durch das Bühnenbild von Sabine Mäder, einem Wald aus herabhängenden Papierbahnen, befestigt an einer undurchdringlichen gläsernen Decke.
Nun ist ‚Gittersee‘ am BE kein Glanzstück, aber auch kein vertaner Abend. Mit Gneuß‘ wunderbar imitierter Sprache wird das tragische Wechselspiel zwischen der vergeblichen Suche nach privatem Glück und staatlicher Ideologie zur interessanten Sozialstudie am historischen Kipppunkt 1976. Etwas dramaturgische Verdichtung hätte den 1:50 Stunden gewiss gut getan.
- Gesehen am 5. März 2025
- Und hier die Stimme der Nachtkritik.