Von Leipzig aus, von den Türmen der Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz, blicken Herr Dulle und Mister Schmidt, die beiden Dottores, hinab und hinüber über die Iron Mountains südöstlich, entdecken das sächsische Amerika und Dr. May, der ebenfalls in dieser Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz sein erhabenes Dasein fristen durfte. Ein großes, imposantes Fernrohr, ähnlich der Zeiss-Ikon-Projektoren in alten Bioskopen, schaut in diese Richtung, und blickt weiter bis nach Novi Sad – Neusatz – und Beograd, die Weiße Stadt, und weiter ins Große Wesen, wie die Einheimischen das Velebitgebirge nennen. Reiter sehen die Dottores durch die Apparatur, und Indianer, Cowboys und Indianer im friedlichen Reich der südslawischen Völker, Jugoslawien.
Dreharbeiten finden statt zu den großen deutsch-jugoslawischen Westernfilmen, Winnetou I und II, Schatz im Silbersee, viele haben mitgespielt in Neben- und Seitenrollen. Der Cowboy beispielsweise, wie die Einheimischen den alten Partisanen nennen, der Laufjunge war zwischen den Fronten. Stets zur Stelle war er im Großen Krieg und im Auftrag des Marschalls persönlich gehandelt. Flink bis todesmutig ist er aufgestiegen als Hoffnungsträger und tief gefallen in der Gunst der Partei. Die Western drehen sie trotz alledem, was auch sonst, sagt Negosava, seine Geliebte, die schönste Frau im Velebit, Mutter seiner Kinder, des Cowboys Kinder, der gar kein Cowboy ist, sondern sein rotes Halstuch trägt, wie die jungen Pioniere im führenden Staate der blockfreien Nationen, als Blickschutz, als Rüstung.
„Der Cowboy, der ja eine Militäruniform trug, antwortete nicht. Der Mund stand ihm offen vor Erstaunen, erst später würde er den seltsamen Singsang der Sachsen kennenlernen, der Sachse lässt die Zunge schleifen. Wo kam der Mann da unten überhaupt her? Der Nationalpark war doch abgesperrt, die Zugangsstraßen blockiert […] Die feindlichen Streitkräfte der Kroaten lagen weit entfernt, serbische Einheiten und Soldaten der jugoslawischen Volksarmee durchstreiften die Wälder, […] und der Cowboy wollte noch einmal, bevor er mit einer Abteilung Richtung der Donau, in Richtung Slawonien zog, um dort, bei der kleinen Stadt V. einige serbische Freiwillige zu übernehmen, die Drehorte der Filme sehen, die Seen, die Berge, die Ebenen, wo die Feinde von heute einst gemeinsam Western gedreht hatten […]“ (S. 296)
In etwa so muss sich ein akutes Schleudertrauma anfühlen, wenn man erschlagen erwacht nach 1050 Seiten Achterbahnfahrt. Clemens Meyers aktueller Roman ‚Die Projektoren‘ ist eine mittelschwere Zumutung, die seinen bisherigen Kanon komplett sprengt an Form, Inhalt und Umfang. Meyer begibt sich auf Diamantensuche nach Kroatien, beginnt zu schürfen und zu graben, legt Schicht für Schicht die Sicht frei auf die jüngste Geschichte des südlichen Balkans, auf Jugoslawien, auf den Zweiten Weltkrieg, die Besatzung, den Siegeszug des Sozialismus und den Aufruhr der Menschen, auf Kriege und auf die Gegenwart, auf neofaschistische Albträume der Kinder der jüngsten Revolution.
Im Mittelpunkt steht der namenlose Cowboy als Protagonist eben jener Jahrzehnte. Anheimgestellt sind ihm fiebrige Erinnerungen, die sich wieder und wieder bahnbrechen. Retrospektive Momentaufnahmen eines mehrheitlich uneingelösten Versprechens auf eine glückliche Zukunft.
Zusammen mit Karl Mays Reiseberichten hat Clemens Meyer alles – wirklich alles – in eine große Küchenmaschine gegeben und den Schalter umgelegt. Entstanden ist eine zähe, klebrige, undurchsichtige Masse, die schwer verdaulich im Magen liegt. Beenden kann – oder sollte – man diese köstlich süße, schlabbrige Mahlzeit dennoch nicht. Und natürlich, wie bereits alle Großeltern wussten, führt zu viel Süßes zu herben Bauchschmerzen.
Dagegen und für die gute Stimmung empfehlen sich ausreichend Ruhe und lauwarmer Brennnesseltee. Denn Clemens Meyer ist kein seichter Eskapismusromancier, sondern der Erzähler des Ostens. Sein sächsisch-jugoslawischer Balkanwestern ist ein eigenwilliger Feuilletonroman für – ja, für wen eigentlich? Im Zweifelsfall für Meyer selbst?
Wahrscheinlich werden ‚Die Projektoren‘ zukünftig in sehr vielen Wohnzimmerregalen stehen und sehr viele Wohnzimmergäste werden sagen: Oh, ein bedeutender, ein erhellender Roman – so wichtig. Pustekuchen! Denn die allermeisten werden diesen Klopper nach 35 Seiten bei Seite legen. Weil er Arbeit bedeutet und nicht leichtgängig säuselt wie das allermeiste gegenwärtige Literaturangebot.
‚Die Projektoren‘ ist ein Roman, der an den eigenen Willen appelliert, durchzuhalten und weiter zu schürfen. Wem dies gelingt, wird viel Freude haben an Meyers ausgezeichneter Erzählsprache, die so vieles verwebt und in Verbindung setzt, beinahe mystisch-märchenhaft und kurzerhand abreißt in Stil und Inhalt.
„Am Ende, und damit sind die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gemeint, wusste niemand mehr, was eigentlich genau los war, wer Unter- und wer Oberhäuptling war, wer zuerst auf wen geschossen hat, wann man aufgehört hatte, einander zu verstehen […], weswegen sich zu Beginn des folgenden Jahrhunderts, also des 21., ein alter Mann mit einem Wanderkino (das auf einem roten LKW untergebracht war) auf den Weg machte, um die romantischen Western, die die Deutschen vor vielen Jahren im verschwundenen Jugoslawien gedreht hatten, noch einmal den unterschiedlichen Stämmen zu zeigen, in der Hoffnung, dass alles wieder wie in einem Märchen des guten Dr. May enden möge.“ (S. 331)
- Gelesen im Oktober 2024
- Und gehört habe ich zu allererst die Besprechung von Nadine Kreuzahler auf Radio3.
Danke für den Link. Ich hab das Buch anders gelesen als du, fine die Rezension aber Klasse. Also beide Rezensionen.
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