„Liebe Oma aus Laos,
es ist Dienstag, der 22. Dezember 1981, kurz vor fünf. Ich sitze in der Straßenbahn der Linie 1, fahre zum Hauptbahnhof, und noch geht es mir gut!
Dein Enkel
André“ (S. 88)
Nichts steht still kurz vor Weihnachten. Seine Großeltern soll er abholen, die aus Thale anreisen und bleiben wollen bis Silvester. In der Kaufhalle war er bereits, um Mutti zu unterstützen. Heiligabend gibt es Klassisches und am 1. Feiertag kocht Mutti laotisch. Ihr Bruder Phone hat sich ebenfalls angemeldet. Er studiert Ingenieurswissenschaften in Velten und hat echt laotischen Reis im Gepäck – das wird ein Fest.
Apropos Fest: Seit einer Woche schneit es ohne Unterbrechung. Oma hat trotz des Wetters wieder taschenweise Kram mitgeschleppt. Geschenke für ihn und Aleng, so viel ist klar. Jedenfalls sollen er und seine Großeltern mit dem Taxi zurückfahren in die Neddermeyer-Straße nach Waldstadt II. Aber kein Taxi kommt bei diesem Mistwetter. Also geht es zurück mit der 1 raus ins Neubaugebiet, wo sie neuerdings wohnen. Weg vom Hubertusdamm, wo all seine Freunde leben und er einer von ihnen ist. Schlitzauge hat ihn dort niemand genannt – oder Fidschi.
„‘Kriegst du nicht langsam Hunger?‘, fragt Hanka und grinst ihn an. ‚Ein bisschen‘. ‚Ein bisschen ist genug‘, sagt Hanka, und dann ruft sie ‚Mutti!‘ in Richtung Flur, wo Frau Putzger mit Oma telefoniert, und gleich noch mal lauter: ‚Mutti“ Haben wir was zu essen da?‘ So könnte er für immer sitzen bleiben. Oder wenigstens heute Abend, wenn Mama zurück ist.“ (S. 174)
Der Handlungsrahmen ist ähnlich zu André Kubiczeks bisherigen Romanen: Der Protagonist wächst heran in Potsdam der 80er Jahre. Vieles stimmt für die sozialistische Musterfamilie. Sein Vater ist im privilegierten Dienst für die DDR tätig und seine Mutter arbeitet als Übersetzerin, spricht perfektes Deutsch und fällt dennoch auf in Waldstadt II. Kennengelernt haben sich Andrés Eltern in Moskau beim Studium. Sie aus Laos, er aus der DDR. Hier beginnt sich das Bild in Kubiczeks aktuellem Roman ‚Nostalgia‘ einzutrüben, das vom Leben in einer binationalen Familie handelt.
Anders als in ‚Skizze eines Sommers‘ oder ‚Der perfekte Kuss‘ strotzt ‚Nostalgia‘ nicht vom jugendlichen Lebenshunger. Nicht nur buchstäblich stapft Kubiczeks Protagonist durch hohen Schnee im kalten und grauen Brandenburger Winter. Der strukturelle Alltagsrassismus als Hintergrundrauschen und die Sorgen um die schwerkranke Mutter zeugen vom Heranwachsen als Hürdenlauf, von jugendlicher Unsicherheit, Scham und dem Wunsch nach Anerkennung.
‚Nostalgia‘ ist bislang André Kubiczeks persönlichster Roman. Auf 397 Seiten erzählt er stilsicher über die Jugendkultur der 80er Jahre. Routiniert, aber sehr liebevoll passen die Bezüge zu Orten, Personen und Alltäglichem. Dennoch stockt ab und an der Atem beim Lesen dieses autofiktionalen Coming-of-Age-Romans, der unerwartet Volten schlägt am Schlaatz, am Stern, am Leipziger Dreieck und im Zentrum Ost. Mein Fazit: Kein heiteres, aber ein sehr lohnendes Lesevergnügen, für das sich der Autor seine Jugend von der Seele schrieb.
- Gelesen im Juli 2024
- Aufmerksam wurde ich auf den Roman durch die Besprechung von Nadine Kreuzahler auf radio3 vom 28. Mai 2024.