‚Interessengebiet‘ von Martin Amis

Mit der aktuellen Verfilmung ‚The Zone of Interest‘ von Jonathan Glazer löst der 2015 erschienene gleichnamige Roman von Martin Amis erneut eine Debatte über das Sag- und Unsagbare vom Unbegreiflichen aus. Denn Interessengebiet ist der freundliche Euphemismus für das Konzentrationslager Auschwitz, dessen Leiter Rudolf Höß in persona von Paul Doll den Antagonisten zu SS-Offizier Golo Thomsen darstellt. Thomsen, Beauftragter für den Bau der Buna-Werke in unmittelbarer Nähe des Kat Zets, verfällt während seines Aufenthalts einer romantischen Obsession gegenüber Dolls Frau Hannah am wahrscheinlich unromantischsten Ort der Menschheitsgeschichte.

Bei Amis‘ Lektüre stehen mehrere Fragen im Zentrum: Ist privates Glück erzählbar und überhaupt möglich bei allem Grauen der Rahmenhandlung? Zweitens: Vermittelt die Täterperspektive irgendeinen Erkenntnisgewinn abseits reiner Unterhaltung? Verhöhnt, drittens, die literarische, künstlerische oder cineastische Verhandlung des Holocausts nicht die Opfer und relativiert die Taten der Täter? Und viertens: Darf ein Roman über Auschwitz Inhalte auf eine Art verhandeln, die komisch ist, über die man lachen muss?

Ja, darf er. Wie wären die zur Schau gestellten Monstrositäten einer real gewordenen, aberwitzig wahnsinnigen Ideologie überhaupt erträglich? Ironie als Stilmittel ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig, gleichwohl der Inhalt und die wechselnden Perspektiven schwer erträglicher, harter Tobak sind.

„Wir rauchten Zigarillos, tranken Kir aus kegelförmigen Gläsern und schauten auf Kalifornien hinaus, das, simultan und in riesigem Maßstab, einem monumentalen, leer geräumten Warenhaus glich […] Ein Gebirge aus Rucksäcken, Seesäcken, Reisetaschen, Kisten und Koffern […] ein mächtiger Scheiterhaufen, der auf die Fackel wartete.“ (S. 61)

Der in sieben Kapitel gegliederte Roman wird aus drei Perspektiven erzählt. In gleicher Reihenfolge sprechen Thomsen, Doll und der jüdische Sonderkommandoführer Szmul in abwechselnder Ich-Perspektive über ihr Tun: Thomsen kühl intellektuell, Doll zunehmend wahnhaft narzisstisch und Szmul als gebrochener Mann emphatisch. Im Gegensatz zu Jonathan Littells Roman ‚Die Wohlgesinnten‘ ist ‚Interessengebiet‘ weniger oszillierend – Amis lässt bei aller Ironie keine Zweifel über seinen Standpunkt, allein dadurch, wie er die absurden Täter der Lächerlichkeit preisgibt. Bemerkenswert ist, dass beide Protagonisten – Littells Max Aue und Amis‘ Golo Thomsen – den intellektuellen Schreibtischtäter verkörpern.

Vor diesem Hintergrund ist es aktuell geradezu essenziell, den Holocaust literarisch zu verhandeln und auf die große Leinwand zu bringen. Sowohl der Roman als auch die Verfilmung können wichtige Beiträge einer progressiven Erinnerungskultur sein, um das Revisionismusnarrativ der Fliegenschiss-Propagandisten Stück für Stück zu zerbröseln.

Auch wenn die Übersetzung von Werner Schmitz gelegentlich daneben tritt. Der 403-seitige Roman ‚Interessengebiet‘ ist gerade nach dem Bekanntwerden des Potsdamer Treffens ein Lehrstück, dass schonungslos und grotesk, stellenweise unglaublich schwer erträglich und gleichzeitig so lehrreich ist sowie – darf man das schreiben? – lächerlich komisch. ‚Interessengebiet‘ verharmlost nichts, ohne dem reflexhaft vorgetragenen Voyeurismusvorwurf rechtzugeben. Das Gegenteil gilt für diesen lohnenswerten Roman.

  • Gelesen im März 2024
  • Aufmerksam wurde ich auf ‚Interessengebiet‘ durch die Filmkritik über ‚The Zone of Interest‘ von David Steinitz in der Süddeutschen vom 23. Februar.

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