Was für ein Sommertag. Komm mit, hast du Lust auf ein Abenteuer, fragt Paul seine sechzehnjährige Freundin Karin. Sie könne nicht, der Vater würde es nicht erlauben. Eine Tour nach Tschechien, und das ein ganzes Wochenende lang. Hin und hergerissen ist Karin, als sich Paul auf den Weg macht. Auf dem Hintersitz sein alter Freund Rühle. Beide kennen sich aus dem Betrieb. Unten im Schacht arbeiten sie, bei der Wismut. Ein Wochenende mal raus, aufbrechen, einfach losfahren. Lust auf ein Abenteuer?
„Wir wollten kleine Biere trinken und die große Straße entlangfahren. Einfach mal nichts denken, einfach mal machen. Die Männer fragten, warum sie über Plauen gefahren wären. Sie sagten, Plauen ist fast Hof, und Hof ist faschistisches Gebiet.“ (S. 36)
Pustekuchen, aus der Traum. Nicht für alle, wie sich in Charlotte Gneuß‘ Debütroman ‚Gittersee‘ schnell herausstellt. Oder vielleicht doch? Wie sahen die Träume junger Menschen aus in jener Zeit, als die Jugend oft viel zu früh endete? Strammstehen, Fahnenappell, Staatsbürgerkunde. Die Ich-Erzählerin Karin lebt mit ihrer Familie am Elbhang im titelgebenden Vorort Dresdens. Geprägt ist ihr Alltag von Routinen und eng strukturierten Ablaufen: Schule, Haushalt, die kleine Schwester. Zwischendurch dumpfes Zetern der Großmutter und elterlicher Streit.
Nur einer fehlt: Ihr Freund Paul, der über die grüne Grenze das Weite sucht. Beihilfe zur Republikflucht ist fortan die Anschuldigung, die Wickwalz der Protagonistin vorwirft. Wickwalz, der freundliche junge Herr, dem die Türen geöffnet werden mit argwöhnischem Blick. Hast du mir etwas zu sagen, Karin? Nächsten Donnerstag 19:00 Uhr am Waldplatz lautet die Anweisungen – ohne Widerrede.
„Der Apparat ist die Avantgarde der Arbeiterklasse. Schild und Schwert der Partei. Und wenn es unseren Leuten nicht mehr um den Gedanken, sondern ums Prinzip geht, dann müssen wir wachsam sein. Und wenn es unseren Leuten nicht mehr um das Prinzip, sondern um die neue Badewanne geht, dann ist es vorbei. Verstehst du das, verstehst du?“ (S. 195)
Karin versteht und darin liegt die große Stärke des Romans ‚Gittersee‘. Charlotte Gneuß trifft nicht nur den Ton der Menschen, sondern skizziert ganz erstaunlich die Lebenswelten und Realitäten der späten DDR. Ihren Figuren mit Neugierde zugewandt, verhandelt die Autorin deren Ambivalenzen. Es sind die gewöhnlichen Leute mit ihren gewöhnlichen Leben, die diesen Coming-of-Age-Roman so spannend und eindringlich werden lassen.
‚Gittersee‘ ist ein Roman, der von der ersten Liebe erzählt, der Schuld gegen Unschuld aufwiegt, der sich entwickelt und aufbraust. Ein Roman, der auf 237 Seiten im VEB Horch und Guck an der Werkbank steht, der bis zum Bersten Spannung aufbaut. Der feiert, der lacht, im Stillen weint und seine Autorin zur verdienten Trägerin des Jürgen-Ponto-Preises 2023 werden ließ.
- Gelesen im Februar 2023
- Ganz herzlichen Dank, liebe Susann, für dein wieder einmal wunderbares Weihnachtsgeschenk.
Eine Antwort auf „‚Gittersee‘ von Charlotte Gneuß“