Was braucht ein Kind, um glücklich zu sein, um behütet aufzuwachsen? Raum, um die brodelnde Neugier auszuleben, gewiss. Zeit, um die Welt im eigenen Tempo zu entdecken. Liebe und Zuneigung, Vertrauen natürlich. Eine Familie, die hinsieht und Bedürfnisse spürt, ganz klar. Mutter und Vater auch? Nicht zwangsläufig, würde Miki sagen, der bei einem schwulen Paar aufwächst, die schnell zu Vater und Vater werden. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wird Miki mit fünf Jahren von seinem Onkel Slawa adoptiert. Er und Lew, einige Jahre älter als Slawa, nehmen Miki ohne Zögern auf. Die frühen Jahre sind ein Kinderspiel im besten Sinne.
Mit der Einschulung wird die Welt für alle komplexer. Zwar sind Miki Begriffe wie Heteronormativität und Regenbogeneltern längst noch nicht geläufig. Schnell erkennt der kluge Junge jedoch, dass seine Familie anscheinend untypisch für die russische Gesellschaft ist. Jahr für Jahr verdüstert sich sein Horizont, die schulischen Leistungen sinken und Miki zieht sich in einen Resonanzraum aus Wut, Jähzorn und Aggression zurück. Isoliert wendet er sich gegen die Menschen, die ihn lieben. Selbstreflektiert fühlt er sich einerseits schuldig für sein Verhalten und andererseits erdrücken ihn die normativen Konventionen der russischen Provinz.
„Vielleicht ist es sogar noch schwerer, in einer queeren Familie aufzuwachsen, als selbst schwul zu sein: Man hat dieselben Schwierigkeiten, aber man versteht nicht einmal, was man dafür kann. Trotzdem möchte ich so sehr, dass er mit humanen Werten aufwächst, dafür bin ich sogar bereit, seine unbeschwerte Kindheit zu opfern.“ (S. 240)
Der Protagonist und Ich-Erzähler wächst mit einer Lüge heran, die titelgebend für Mikita Frankos Debütroman wird. Auf 382 Seiten verhandelt der Autor autofiktional, wie queere Paare und Regenbogenfamilien ein Leben im Abseits leben, im Geheimen. Stigmata bis hin zu staatlicher Repression wären Folgen gelebter Liberalität. Der 26-jährige Autor legt die inneren Konflikte des Jungen frei als Kontrapunkt zur geschlossenen Gesellschaft und wirft breite Schlaglichter auf deren Konsequenzen.
Sprachlich kontemporär in einer leichtfüßigen Übersetzung von Maria Rajer wirkt der Inhalt gelegentlich arg konstruiert. Während Mikis (auto-)aggressive Zerrissenheit, die elterlichen Sorgen sowie Slawas und Lews unverwüstliches Mühen – wie sollten liebende Väter auch anders können – große Stärken des Romans sind, hat der Autor mit mancher Wendung den Rucksack schlicht zu vollgepackt.
Nichtsdestotrotz ist ‚Die Lüge‘ von Mikita Franko ein Roman, der das Wichtigste in den Mittelpunkt stellt. Der geradeheraus von einer Zeitgenossenschaft berichtet, wie sie für queere Menschen und Regenbogenfamilien Realität ist. Während Immigration nach Kanada als liberale Chiffre einen Ausweg markiert, wählt Franko die innere Freiheit. Sieht man über die zeitweisen schablonenhaften Volten hinweg, ist dieser Erstling ein ideales Abendprogramm mit überraschendem Schluss.
- Gelesen im Februar 2024
- Aufmerksam wurde ich durch ein Interview mit Mikita Franko bei Deutschlandfunk Kultur vom 1. Juni 2022.