‚Natürlich kann man hier nicht leben‘ von Özge İnan

Immer ist es die Frage der Kinder nach dem Warum. Und der Wunsch, das zu bekommen, was man nicht hat. Als ob die Deutschen keine Probleme hätten, sagt Emre zu seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Nilay. Du bist hier geboren, eine Kartoffel bist du. Was weißt du schon von der Türkei? Nilay sprang auf, rannt raus und verließ die Wohnung. Weg, raus, wohin? In das Leben, das sie hätte haben können, haben will. In Izmir mit großer Familie und den Festen, die niemand hier feiert. Der Anlass sind die Gezi-Proteste. Die Gründe die Frage nach dem Warum.

Rückblende, 1980. Izmir-Zentrum! Bus nach Izmir-Zentrum, sagt Selim auf seinem Weg ins Internat. Noch wenige Jahre die Schule besuchen, dann studieren und arbeiten. Weiter engagieren in der Partei natürlich. Fragil ist die politische Stimmung und günstig die Gelegenheit. Wenige Jahre später lernt Selim Hülya kennen, als er bereits als Journalist arbeitet. Hülya studiert und ist ebenfalls in der Studierendengruppe aktiv. Gemeinsam organisieren sie Demonstrationen immer unter Gefahr, verhaftet zu werden. Wie hießt noch gleich das verbotene Trigger-Wort? Kurdistan! Fünf Jahre Haft drohen bei öffentlicher Verwendung. Als der Brief der Staatsanwaltschaft im Briefkasten liegt, ist Selim klar, was passieren muss.

Natürlich höre ich ihm zu, sagte sie, hielt die Nase in ihr Teeglas und atmete tief ein. Banu drückte ihre Zigarette aus und stellte den Aschenbecher in das andere Zimmer. Und dir ist nie aufgefallen, rief sie aus der Küche, wie oft er rumjammert, dass man in der Türkei nicht leben kann? Wer tut das denn nicht, rief Hülya zurück. Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man doch nicht einfach ab. (S. 185)

Was sind die Gründe, das eigene Land zu verlassen? Welche Motivationen bewegen Menschen, mit wenigen Habseligkeiten diesen Schritt zu gehen? Özge İnan skizziert in ihrem Debütroman ‚Natürlich kann man hier nicht leben‘ Gründe und gibt Antworten. Sie richtet den Blick zurück in die Türkei der 1980er-Jahre. Beginnend kurz vor dem Militärputsch erzählt İnan vom Heranwachsen, von Idealen, vom Wunsch politischer Wirksamkeit. Um ihre Protagonist:innen Hülya und Selim konstruiert die Autorin einen hochpolitischen Basar, ein Treiben der Meinungen und Haltungen, des Aktivismus für eine bessere Zukunft, für ein besseres Land.

Auf der einen Seite steht die traditionelle Welt der Eltern, auf der anderen Seite der westliche Blick in die eigene Zukunft. ‚Natürlich kann man hier nicht leben‘ ist ein Roman im aktuellen Kanon postmigrantischer Literatur. İnan knüpft an „Dschinns“ von Fatma Aydemir an sowie „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter. Ihre Perspektive rekonstruiert als historisches Zeitdokument ohne Schwarz-weiß-Dichotomie den Weg der Türkei bis zum Protest der vielen Tausend 2013 rund um Gezi-Park. Gleichzeitig sensibilisiert ihr Roman für eben jene Gründe, die Menschen veranlasst, auszureisen, zu fliehen. Özge İnan hält den überhitzten Pseudo-Debatten auf Twitter und Co auf 237 Seiten einen kundigen wie empathischen Gegenentwurf entgegen, der trotz vehementer Dringlichkeit einem mit Lächeln und freundlichem Blick entgegentritt. Sehr schön, ich bin gespannt auf mehr.

  • Gelesen im Oktober 2023
  • Eine Empfehlung aus der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.

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