‚Wir wollen nach oben‘ von Joe Mungo Reed

Als Jan Ullrich 1997 die Tour de France gewann, war ich begeistert. Mehr noch! Euphorisch war ich und wollte unbedingt Radprofi werden. Fuhr noch motivierter mit meinem Mountainbike über die Straßen und durch die Wälder meiner Kindheit. Als kleiner Steppke schaute meine Oma mit mir die Etappen der Tour. Mal ging es durch weite Ebenen, karges Agrarland, verspielte Flusslandschaften. Pittoreske Städte abwechselnd in Kultur- und Naturlandschaften. Dann Bergetappen mit drei, vier Pässen. 3000 Meter über Null. Hoch nach Alpe d’Huez, der Königsetappe und wieder runter. Über die Westalpen und durch die Pyrenäen. Schließlich in großen Schleifen auf Paris zu. Über holprigstes Großstadtpflaster ins finale Tor auf dem Champs-Élysées.

Einzelzeitfahren, Massensprints, Bergankünfte, Jubel und ganz großer Jubel. Zehntelsekunden zwischen Ruhm und Niederlage. Die Länge eines Hinterrads. Kraft, Zähigkeit, Wille und jede Menge Teamarbeit. Das ist Sols Lebens. Sol ist Ich-Erzähler. Profiradfahrer und gut darin. Sehr gut sogar! Mehrfach nahm er an wichtigen Touren teil. Als festes Teammitglied ist Sol Spitzendomestik für Fabrice. Fabrice, Teamkapitän und Favorit auf der härtesten Tour der Welt. Sols Frau, Liz, ist ebenfalls gut in dem, was sie tut. Ein Ehepaar also, das mitspielt und zwar weit vorn. Sie Biologin, promoviert, Leiterin eines ambitionierten Forscherteams, Mutter. Und beide wollen nach oben. Straight fokussiert.

Scheitern? Ist nicht eingeplant. Leben am Limit und das nach Protokoll. Doch was passiert, wenn kein Protokoll greift? Die Kette hakt? Die Räder blockieren? Was, wenn Material versagt? Oder der Mensch? Größte Glücksgefühle bei Abfahrten mit 60, mit 80 Sachen und teilweise mehr. Serpentinen abwärts und keine Bremse stoppt? Tortur am Berg und Entbehrung im Leben. Den Berg hinauf und fliegend wieder hinunter. Davon schreibt Joe Mungo Reed und vom Leben im Spitzensport. Vom Leben in einer Welt, in der Helden geboren, Idole leben und wieder vom Olymp gestoßen werden. Wer betrügt, fliegt!

‚Wir wollen nach oben‘ ist ein Debütroman, der davon erzählt, was Radrennsport bedeutet. Spitzensport ohne Limits. ‚Wir wollen nach oben‘ sind packende 285 Seiten, in denen Reed das benennt, was fasziniert und gribbelt. Was viele fesselt und wenige schockiert. Im Aufbau einem mehrtägigen Radrennen gleich, oszilliert Reed zwischen Sols Entwicklung retrospektiv und seiner Gegenwart. Ein Diskurs über Leistung und darüber, wie man mehr leistet. Reed schreibt vom Doping ohne zu moralisieren. Ein Erstling als Highspeed-Thriller und der Frage: Vorwärts, aber wie? Und warum? ‚Wir wollen nach oben‘ ist ein gelungenes Debüt, das lohnt und vieles verspricht. Scharf an der Leitplanke und immer mit Helm! Nicht nur für Radsportfreunde!

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