Achtung, Theater! – ‚Der Keim‘ am Theater Bremen

Wenn die Kornmahd eingeholt ist, der Wind nur ruhig weht, die Sonne ihren milden Dienst tut und das Getier es erlaubt, gönnen sich die Inselbewohner:innen einen halben ruhigen Tag. Von den wildgewordenen Schweinen abgesehen, sollte gestern so ein Tag sein, doch an seinem Ende waren zwei Menschen tot. Die Dorfgemeinschaft verfällt in Starre: Geschockt von dem Mord des Fremden an einer der Ihren und geschockt von ihrer eigenen Tat. Die ihn sahen, sagen, er war nicht bei sich, verwirrt, verrückt womöglich. Doch diese Rache, die unerbittliche Hatz bis in die tiefste Nacht – war sie nötig?

Der Fremde lief umher. Er stromerte, suchte, sagen die, die ihn gesehen haben. Er kam zum Hof Li. Karl Li hat viel erreicht und viel errichtet: die größte Obstplantage hat er mit der größten Scheune der Insel. Eigentlich hat der Hof keinen Namen, wie auch die Scheune keinen Namen trägt. Doch die Menschen der Insel, eine eingeschworene, kleine Gemeinschaft, nennt sie wie seinen Besitzer. Li. Und Karls Sohn, Rolv, wurde zum Mörder aus Rache um seine getötete Schwester.

Wie regiert eine Inselgesellschaft, wenn die alltäglichen und von den Jahreszeiten geprägten Routinen aus den Fugen geraten? Wie handelt sie, wenn das Allgemeingültige gebrochen wird und Übereinkünfte, die das Zusammenleben in Bahnen lenkt, gestört und missachtet werden?

In ihrer ersten Inszenierung am Theater Bremen lässt Ruth Mensah das Kleine Haus komplett einnehmen von der Energie der Schauspieler:innen. Punkt 19:30 Uhr infiltrieren sie das vollbesetzte Foyer und stören als eben jene Fremde die Routinen einer Gruppe, einer Gemeinschaft aus Theatergästen, die wartet, trinkt, spricht und zuhört und sich unerwartet wiederfindet in der großen Scheune Li als Teil einer Verantwortungsgemeinschaft. Die deutschsprachige Erstaufführung von ‚Der Keim‘ von Tarjei Vesaas beginnt unkonventionell und behält 120 Minuten ohne Pause im bedeutungsschweren Ton ihren unironischen Erweckungsgestus bei. Komplett nimmt sich die Arbeit mit beeindruckender Konsequenz dem Tempo Vesaas‘ an. Rhythmisiert durch die wallende Unruhe der Inselgemeinschaft entstehen großartige Szenen in Yuni Hwangs grasbewachsener Hügellandschaft.

Die Kehrseiten dieser bemerkenswerten Inszenierung sind verstörende Eintönigkeit und ein großteils tot langweiliges Stück. Positiv gelesen bleibt die Regisseurin damit nah an der literarischen Vorlage, die zwar eindringlich, aber ungemein sparsam mit Sprache operiert. Auch dem Ensemble, insbesondere der erfrischenden Jorid Lukaczik und Ruben Sabel, gelingt es nur selten, den ermüdenden Trott zu durchbrechen. Irene Kleinschmidt, die großartig in ihrer Rolle als Kari Nes aufgeht, wird zum verstörenden Symbolbild einer norwegischen Inselgemeinschaft.

Auch wenn ‚Der Keim‘ in dieser Inszenierung viel Kraft und Durchhaltevermögen einfordert – wahrscheinlich auch deshalb ohne Pause? – besticht die Arbeit durch ihre Andersartigkeit. Die Freude am Unkonventionellen, die Eröffnung im Foyer, die vorantreibende Choreographie der Hatz, oder auch der Bogen zwischen Karls Verteidigungsrede zu Beginn und der gleichen Rede als Katastrophe, sind gute Regieeinfälle. Vesaas sperriger Text wirkt dennoch aus der Zeit gefallen. In Gänze will die Arbeit letztlich zu viel und scheitert am eigenen, zu ambitionierten Anspruch.

  • Gesehen am 30. April 2025
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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