Achtung, Theater! – ‚Ophelia’s Got Talent‘ an der Volksbühne

Manche Boomer erinnern sich noch an heiles Samstagabendglück. Der alte weiße Entertainer betritt die Fernsehbühne, während die Herzen ihm zufliegen und zur fortgeschrittenen Stunde auch Blumensträuße und anderer Tand. Ganz ähnlich beginnt ‚Ophelia’s Got Talent‘ von Florentina Holzinger an der Berliner Volksbühne. Der Host des Abends, eine Imagination des Piraten schlechthin, betritt den Saal, begrüßt die Gäste und ruft die Protagonistinnen auf der Bühne. The Stage is wide open und die Jury nimmt Platz, die Show beginnt. Applaus, Applaus, liebes Publikum.

Es folgen zweieinhalb Stunden mit Glücksmomenten, großer Poesie, epischen Bildern, körperlicher Höchstleistung an Akrobatik, Textreproduktion und Sinnlichkeit, Tanz, Gesang, Choreografie bis zur existenziellen Grenzüberschreitung. ‚Ophelia’s Got Talent‘ beginnt als Castingshow und setzt sich fort in sieben Teilen, bis schließlich eine neue Generation das Zepter übernimmt nach dem Chaos, dem letzten Gang in die Traufe.

Die Ausnahmekünstlerin Holzinger hat mit ihrem multidisziplinären inklusiven Mehrgenerationenensemble der Weiblichkeit ein Opus gewidmet. Nicht die Abgrenzung zum omnipräsenten Maskulinen ist der Ausgangspunkt – das Stück wird ausnahmslos durch weiblich gelesene Personen gespielt – sondern die Thematisierung der sinnlichen Weiblichkeit. Begriffen wird sie als Ursprung, als liquide Lebendigkeit, als Wasser des Lebens.

Gleichzeitig dehnt Holzinger den guten Geschmack zur grenzüberschreitenden Provokation. Großteils auf Englisch erzählen die Künstlerinnen von Medusa, Udine, den Sirenen, Loreley und anderen. Sie stellen ihre Perspektive vor und ihren Umgang dar mit Selbstliebe und Selbsthass, gesellschaftlichem Druck, sexueller männlicher Gewalt und ihre Reflexion darüber als positive Freiheit.

‚Ophelia’s Got Talent‘ ist die permanente Grenzüberschreitung: Nacktheit, Selbstverletzungen, das Spiel der Körper im allgegenwärtigen Überlebenskampf. Florentina Holzinger wird zurecht als absolute Provokateurin gefeiert, die Mauern niederreißt und Konventionelles negiert. Kunst muss Grenzen überschreiten, um sie auszuloten. Wie soll ein Diskurs auch produktiv vorankommen ohne Reibung und Antipoden?

Beispielhaft dafür steht das Bühnenbild von Nikola Knežević als ästhetische und physische Infrastruktur, die es braucht im fluiden, unablässigen Strom der Formen und Sprachen, von Kommunikation. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wieso und wozu das alles – also ALLES – nötig ist. Die körperlich hochanspruchsvollen Performances, auch unter Aufgabe der körperlichen Unversehrtheit, sind wegweisend für das nächste Theaterjahrzehnt. Ob die Auftritte von Kindern inmitten ekstatischer Kopulation dramaturgisch notwendig sind oder als Tatbestand den Jugendschutz betreffen, steht ebenfalls beispielhaft für den Abend.

Und so kommt es, wie es kommt: Am Ende verlässt mit Standing Ovations ein jubelndes Publikum das Riesending in Mitte und diskutiert bei Wein und guter Laune. Die 2022 uraufgeführte Produktion ‚Ophelia’s Got Talent‘ und alle weiteren Arbeiten von Florentina Holzinger sind zurecht Stoff in den Feuilletons. Es ist gut, dass die Auseinandersetzung gesucht wird auf der Bühne und im gesellschaftlichen Diskursraum. Viel zu oft fühlte ich mich an diesem Abend an die Spätphase der Weimarer Republik erinnert, wo nicht mehr mit Argumenten gestritten, sondern gekämpft wurde bis zum Äußersten.

  • Gesehen am 21. November 2024
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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