In dem kleinen Städtchen First Sister, Vermont, verläuft das Leben in ruhigen Bahnen. In beschaulicher Umgebung wächst William heran, den Billy rufen, mit Ausnahme von Miss Frost. Sie ist die Bibliothekarin der städtischen Bücherei und für Billy die erste Schlüsselperson seines Lebens. Bevor sein Stiefvater mit ihm erstmals die Bücherei betritt, hatte Billy beinahe nicht gelesen. Bis dato belaufen sich seine Literaturkenntnisse auf die aussortierten Liebesromane seiner garstigen Tante Muriel. Miss Frosts Engagement ist es zu verdanken, dass Billy zum unermüdlichen Leser wird, der nie genug bekommt, zu erfahren, was das Leben und die Welt außerhalb von First Sister zu bieten hat.
Apropos Welt: In First Sister ist Grandpas Laientheater kulturelles Zentrum. Alle spielen sie dort, Muriel, Grandpa, bald auch Miss Frost. Billys Mutter Mary souffliert dem Ensemble – auf der Bühne zu stehen, lehnt sie partout ab. Ganz anders Richard, der als junger Lehrer an der Favorite River Academy eine Stelle antritt. Für die Theatergruppe ein Glücksfall, denn der Typ männliche Hauptrolle war bislang schwer besetzbar. Schnell wird Richard auch für Mary die männliche Hauptrolle und damit nicht nur Billys Lehrer, sondern auch zum Stiefvater und Mentor.
„Hör zu, Bill, sagt Richard. Lass die Bibliothekarin deine neue beste Freundin sein. Wenn dir gefällt, was sie dir zu lesen gegeben hat, vertrau ihr. Die Bibliothek, das Theater, die Leidenschaft für Romane und die Bühne – Bill, das könnte die Tür zu deiner Zukunft sein.“ (S. 72)
Als Billys Stiefvater ihm diese Worte sagt, weiß Billy noch wenig über seine Zukunft, die John Irving für ihn in seinem Roman ‚In einer Person‘ vorsieht. Billy steht als Protagonist und Ich-Erzähler Billy im Mittelpunkt und spricht retrospektiv über sein Leben. Ein Leben, das ihn nach seiner schulischen Ausbildung an ein New Yorker College führt und für einem Studienaufenthalt nach Wien.
‚In einer Person‘ ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Irving. Sowohl formal als auch inhaltlich steht dieser Roman in einer Linie mit vielen weiteren Werken des Autors: Handlungsorte sind mehrheitlich die Provinz New Englands und Wien als Gegenentwurf, Antagonist:innen und Hintergrundhandlungen thematisieren die Abwesenheit des Vaters und die Frage nach dem Warum. Im Vergleich bspw. zu ‚Das Hotel New Hampshire‘ verhandelt Irving in seinem 2012 erschienen Roman allerdings Transgenderfragen explizit ohne Chiffre, indem er Schlüsselfiguren transgeschlechtlich anlegt.
Dieser Roman ist aber auch deswegen ein typischer Irving, weil er sich zieht. Mit einer bemerkenswerten Langatmigkeit erzählt der Autor detailreich, stellenweise redundant – und das dauert. Gleichzeitig fliegen die Seiten, denn man möchte wissen, welche unvorhersehbare Richtung Billy und seine Partner:innen nun einschlagen. ‚In einer Person‘ ist ein liebevoller Roman, den man gut zwischendurch lesen kann, der, typisch amerikanisch, natürlich klischeebeladen, aber vielleicht auch deswegen oft zum Lachen ist. Man muss sich die Zeit nehmen für die 722 Seiten, die sich nicht alle lohnen. Ein großes Plädoyer für die Freiheit.
- Gelesen im September 2024
- Herzlichen Dank, lieber Frank, für dein wunderbares Geschenk.