Liebes Publikum, wir wollen mit dem Beginn noch einen Moment warten, bis der Einlass vollständig abgeschlossen ist, sagt Leon Pfannenmüller in Richtung der Gäste. Eine ältere Dame steigt die Tribüne im Kleinen Saal am Haus der Berliner Festspiele hinauf. Die Türen schließen sich. Am Bühnenrand kurz vor der Rampe beratschlagen die Schauspieler:innen wie zu Beginn einer Pressekonferenz. Linde Dercon tritt hervor und beginnt auf Englisch zu monologisieren. Lauter, ruft es aus dem Publikum. Nikita Buldyrski reicht der Sprecherin ein Mikrofon, das Licht wechselt und das Publikum fragt sich: Alles bloß Zufall?
Was wir uns vorgenommen haben, Ihnen zu zeigen, ist uns leider nicht gelungen. Deshalb haben wir uns entschlossen, Ihnen unsere E-Mails aus der Probenphase vorzulesen, sagt Pfannenmüller nach beendetem Monolog. Die sechs Personen nehmen in einer Stuhlreihe Platz und beginnen zu lesen. Die Frage über allem, womit soll ihre letzte Spielzeit am Theaterhaus Jena starten? Ein Stück, dass Aufsehen erregt. Die F.A.Z. könnte einmal wieder kommen, vielleicht die Süddeutsche. Als Antwort einigen sich die Protagonist:innen auf die ‚Die Hundekot-Attacke‘ mit dem erklärten Ziel, zum Berliner Theatertreffen eingeladen zu werden. Und wieder fragt das Publikum: Was ist Inszenierung und was Realität?
So ein kranker Shit – und ihre Hypothek auf das Ziel wurde eingelöst! Herzlichen Glückwunsch in die Provinz. Die großen Häuser, die großen Budgets – auch abseits der großen Bühnen wird gutes Theater gemacht und dass ‚Die Hundekot-Attacke‘ in der Regie von Walter Bart unter Mitarbeit des Ensembles tatsächlich zum 61. Theatertreffen eingeladen wurde, kann getrost als Einlassung auf eine notwendige Provokation verstanden werden. Aber bitte nicht als bemühte Reaktion, sondern völlig zu Recht aus schauspielerischen und formalen Gründen.
1:45 Stunden dauert dieses herausragende Theaterstück und seine Nabelschau des Kulturbetriebs. Dass nicht jede Idee automatisch gut ist, stellt Pina Bergemann bei ihrer diskursiven E-Mail-Rezitation selbst fest. Umgesetzt werden die Ideen am Ende dennoch als solitäre Introspektive aller. Ein im Feuilleton reichlich beachtetes Thema aufzugreifen und anhand dessen kluge, freche und hoch aktuelle Gesellschaftskritik zu üben, ist das Eine. Das Andere sind der pointierte Text und die sehr, sehr lustige Umsetzung, die trotz berechtigtem Stinkefinger nicht verletzt.
‚Die Hundekot-Attacke‘ ist mehr als Theater und Theaterkritik. Nikita Buldyrski bringt es in seinem Drei-Minuten-Rapp mit voller Breitseite auf den Punkt. Was bringt es, wenn Theater als bildungshuberische Ergötzung nicht den Saal verlässt, wie Patrick Presch zu ‚Laios‘ abschließt? ‚Die Hundekot-Attacke‘ hat das Theater in Jena verlassen und Debatten angestoßen, wurde aufgegriffen in den relevanten überregionalen Medien, beachtet von Theaterjurys und eingeladen zu den Festivals der Saison.
Vor zwanzig Jahren habe ich selbst an einem kleinen Stadttheater gespielt. In einem Vierspartenhaus, dass unter existenziellem Finanzdruck arbeitete. Beachtet wurden die Produktionen nicht. Auch vor diesem Hintergrund bin ich wirklich bewegt und freue mich riesig für das Jenaer Theaterkollektiv.
- Gesehen am 19. Mai 2024
- Und hier die Stimme der Nachtkritik.