Achtung, Theater! – ‚Einfach das Ende der Welt‘ am DT Berlin

Die Publikumstüren öffnen sich. Ein heller Saal, die voll erleuchtete Bühne mit einem nachdenklichen Benjamin Lillie, der durch die Räume eines Wohnhauses streift. Schnell erfahren wir, es ist das Haus seiner Familie, in dem er seine Kindheit verbrachte und aufwuchs. Die vierte Wand durchbrochen, spricht Benjamin direkt zum Publikum. Mitteilen möchte er etwas Drängendes und bittet die Gäste, ihre Augen zu schließen. Er sei sehr krank und habe nicht mehr lange zu leben. Wie wir, das Publikum, damit umgehen würden, fragt er. Würden wir die letzten Wochen, Tage, Stunden in der Fremde verbringen? Endlich die immer ersehnte Reise antreten? Während Benjamin die Räume mit all ihren Utensilien abfilmt, verkündet er den Entschluss, seine Familie zu besuchen. Menschen, die er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat.

Pause, Umbau nach bereits 30 Minuten. Behände wird das unglaublich detailreiche Bühnenbild von Jonathan Mertz zerlegt. Wände werden ver- und weggeschoben. Am Ende bleiben karge Negative seitlings im Halbrund verteilt, hinter denen Mutter, Schwester, Bruder und Schwägerin emotional angefasst hervortreten. Triviale Fragen sind nach wenigen Minuten gestellt: Wie geht es dir? Was hast du gemacht? Ach, tatsächlich? Gar nicht verändert hast du dich. Das kann ich nicht glauben.

Was willst du hier, platzt es aus Benjamins Bruder heraus, gespielt von Nils Kahnwahl. Damit liegt die entscheidende Frage in Christopher Rüpings Arbeit ‚Einfach das Ende der Welt‘ offen zu Tage. Ein junger Mann, der Protagonist, Benjamin, sucht Halt, Verständnis, Absolution. Aber wofür? Dafür, dass er die piefige Enge seiner Kindheit und Jugend hinter sich ließ? Sein Bruder klagt an. Er habe keine Wahl gehabt, auch gehen zu können. Oder hier zu bleiben, bei der Mutter, dieser übergriffigen Person.

Zwischen zwei in sich kohärenten Realitäten reißt metaphorisch ein Graben auf, eine Schlucht, kilometertief, unüberwindbar. Es ist die Sprachlosigkeit zwischen den Protagonist:innen: Der Mutter, gespielt von Corinna Harfouch, und ihrem Sohn. Zwischen den Brüdern, zwischen allem, was sie früher verband. ‚Einfach das Ende der Welt‘ verhandelt die in der Regel zwangsläufige Entfremdung zwischen Eltern und Kindern bzw. der familiären Welt. Und alles geschieht in der bedrückenden Atmosphäre unfreiwilliger, quasi notwendiger Familienzusammenkünfte.

Basierend auf dem gleichnamigen Film von Jean-Luc Lagarce adaptiert Rüping den Stoff zunächst am Schauspielhaus Zürich. Leicht überarbeitet übernahm nun das Deutschen Theater Berlin die Inszenierung – eine große Theaterfreude insbesondere auch wegen Benjamin Lillie.

Ohne klare Urteile zeichnet ‚Einfach das Ende der Welt‘ eine Debatte aus den 90er Jahren nach mit Argumenten, die einerseits anachronistisch wirken und andererseits noch immer Gültigkeit besitzen. Vermeintlich nicht übernommene Verantwortung wird so zum Vorwurf gegen die eigene Individualität und dem Wunsch, auszubrechen. Dem ureigenen Wunsch auf Glück. Auszubrechen aus der unfreiwilligen Unmündigkeit – nicht nur am Ende der Welt.

  • Gesehen am 21. April 2024
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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