‚Unsereins‘ von Inger-Maria Mahlke

Zu der Zeit, als Georg in die Anstalt verfrachtet wird, dem ältesten Gymnasium der Stadt, rangiert Lübecks Bedeutung auf dem vorletzten Platz im Reich. Und weil zweitkleinster Staat noch unbedeutender klingt, als es Lübeck ohnehin ist, halten die Senatoren, Ratsherren, Kaufleute und Industriellen (oft in Personalunion) stolz die rote Laterne hoch. Dem Selbstbewusstsein dieser mickrigen Provinz, wie Georg nicht selten feststellt, tut dieser Umstand keinen Abbruch. Ursprünglich stammt Georg aus Berlin respektive Charlottenburg, der reichsten Gemeinde Preußens. Nach dem überraschend frühen Tod des Vaters siedelt seine Mutter um aufs Land und Georg zieht nach Lübeck. Heil dir im Siegerkranz im Jahre des Herrn 1890.

Insgesamt haben es die Menschen nicht leicht in Lübeck – nicht nur des Wetters wegen. Während Georg unter seinen Klassenkameraden leidet, ist beispielsweise Wasserbaudirektor Konrad Schilling damit befasst, Senat, Rat und Wirtschaft in der Scheiße-Frage auf seine Seite zu ziehen. Beauftragt ist er, Kanäle zu ziehen, reichlich Wasserfläche ringsum der Altstadtinsel trockenzulegen und eine Kanalisation zu errichten. Auch in Lübeck soll dem Wasserklosett die Zukunft gehören. Seine Frau ist unterdessen um den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie stets bemüht. Die Töchter, es ist an der Zeit. Heil dir im Siegerkranz.

Denn ‚Unsereins‘, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Reise in die gute alte Zeit. Mit Lübeck entschied sich Inger-Maria Mahlke erneut für einen Handlungsort, den sie aus Kindheitstagen sehr gut kennt. Was mir vor gut fünf Jahren bei ‚Archipel‘ sehr gut gefiel, gerät bei ‚Unsereins‘ zur ausfransenden Spitzendecke unter betulichem Porzellan. Auf den ersten 100 Seiten führt Mahlke kapitelweise neue Personen ein, die alle vorgeben, mehr oder weniger wichtige Dinge zu tun zu haben. Darunter leiden der inhaltliche Fortgang wie die charakterliche Entwicklung des Personaltableaus. Auf den 493 Seiten verzettelt sich die Autorin im Kleinklein. Die Detailversessenheit ermüdet.

‚Unsereins‘ ist andererseits auch ein liebevolles literarisches Denkmal Lübecks und des hanseatischen Bürgertums insgesamt. Der hölzern antiquierte Stil unterstreicht das Sujet – ob zum Vor- oder Nachteil bleibt Geschmackssache. Obwohl ich Gesellschaftsromane dieser Art schätze, hat mich ‚Unsereins‘ leider nicht abgeholt. Die mehrheitlich eindimensionale Fokussierung auf das Bürgertum überlagert den historisch wie gesellschaftlich hoch spannenden Kontext. Vielleicht griff ich ‚Unsereins‘ schlicht zur falschen Zeit in Erwartung, auch diesen Roman mit viel Freude zu lesen. Einem Roman, der einfach zu viel will und gelegentlich ins Erzählerisch-märchenhafte rutscht. Mit etwas Mühe kommt man dennoch gut durch und erhält einen sehr detailreichen Eindruck vom alten Lübeck – immerhin.

  • Gelesen im März 2024
  • ‚Unsereins‘ war ein Zufallsfund in der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.

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