Achtung, Theater! – ‚1984‘ am Berliner Ensemble

Alles Wilde, alles Lebenswerte, Süße, Reizvolle existiert nicht mehr. Verboten ist es nicht erst seit 1984. Die Welt ist gefangen im Totalitarismus, der seine Existenz im permanenten Ausnahmezustand, dem Krieg zwischen den drei Großreichen begründet. Sind auch die Länder verschieden, so ähneln sie sich in Struktur und Typologie. Big Brother umspannt die Welt, verengt und schließt Räume, strahlt mit gierigem Blick ins allerprivateste, drangsaliert und formt um – bis hin zur Liebe zwischen zwei Menschen.

Hoppla, ein kurzer Blickkontakt. Treff mich in großer Menschenmenge, wo uns niemand bemerkt, sagt Julia im Vorbeigehen zu Winston Smith. In einer deprivatisierten Welt keimt Regung, Anregung, Erregung. Im liberalen Geiste verbunden, widersetzen sich Julia und Winston mit der ihnen am schärfsten zur Verfügung stehenden Waffe: der Liebe. Sie rebellieren gegen die Partei, die alles ist und alles weiß. Sie halten fest an der absoluten Wahrheit der Natur und ihrer Gesetze. Zwei und zwei bleibt vier und ihr Verbrechen ist falsches Gedenken.

Mit Denken und Sprache konstituieren Totalitarismen soziale Wirklichkeit als teleologische Bewegung. Sie delegitimieren objektive Wahrheit und setzen Ideologien an ihrer statt. Das, was geschieht, geschieht nicht real, sondern allein dadurch, dass wir davon überzeugt sind. George Orwell betont diese Gräueltat an der Wahrheit als die schlimmste Dimension totalitären Machtstrebens, die Luk Perceval zunehmende präzise in seiner gut 90-minütigen Arbeit ‚1984‘ am Berliner Ensemble auf die Bühne bringt.

Die zweiteilige Inszenierung verhandelt zunächst behäbig das Kennenlernen und die Liebesbeziehung zwischen den Protagonist:innen und setzt sich nach der Pause dezidiert mit dem machthungrigem Staat auseinander, der Menschen zu Untertanen quält. Die Pause markiert eine elementare Determinante: Das von Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar und Veit Schubert gespielte Winston-Quartett zitiert aus „Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ von Emmanuel Goldstein, dem systemimmanenten Antagonisten von Big Brother. Die Beiläufigkeit des Monologs intensiviert die Dringlichkeit des Textes und schließt die Tür auf hinein zum zweiten Teil, in dessen Zentrum das offenlegende Verhör O’Briens von Winston steht.

Philip Bußmanns Bühnenbild als einseitig geöffneter, auf der Innenseite verspiegelter Keil, errichtet ein zellenhaftes Innen, das von einem Außen abgrenzt und eine rohe, hölzerne Konstruktion offenlegt. Im Wechselspiel zwischen Sprechtheater mit puristischem Spiel einerseits und der bühnenbildlich reduzierten Kargheit andererseits entkrampft sich ‚1984‘ im zweiten Teil zur angstbefreiten Rätselslösung. Durch ein willkommenes Ausbleiben aktueller Bezüge wird ‚1984‘ mehr und mehr zur theatralen Verhandlung über das Hier und Heute, was das Publikum geradezu zur eigenen Auseinandersetzung mit der Gegenwart drängt. Eine Inszenierung, die ohne zu viel auszuformulieren, innerlich in Bewegung versetzt und als Schwungrad zum gelungenen Theaterbesuch wird.

  • Gesehen am 4. Januar 2024
  • Und hier die Stimme der Nachtkritik.

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