Alles in allem hat Ruth Lember in ihren 50ern vieles erreicht. Als Philosophieprofessorin an der Humboldt-Universität wird sie in den Deutschen Ethikrat berufen. Gemeinsam mit ihrem Mann Ben, einem erfolgreichen Architekten, lebt sie mit ihrer Ziehtochter Jenny unweit des Lietzensees im gutbürgerlichen Charlottenburg. Beste Lage, beste Aussicht auf die Stadt und die eigene Zukunft. Die Korken knallen, als Ben schließlich einen wichtigen Architekturwettbewerb für die Weiterentwicklung der Siemensstadt gewinnt. In arrivierter Behaglichkeit startet Ruth in die neue Woche – formaler Startpunkt in Ulrich Woelks aktuellem Roman ‚Mittsommertage‘, dessen sieben Kapitel tageweise von epochalen Anekdoten berichten.
Getrübt wird der Wochenstart von einer ganz doofen Geschichte. Beim morgendlichen Joggen erleidet Ruth einen Hundebiss. Anstatt sich die Kontaktdaten der Halterin geben zu lassen, ärgert sich die Protagonisten über den Hund, die junge Besitzerin und über sich selbst. Hinzukommt Bauchgrummeln wegen der nicht enden wollenden Pandemie. Kopfzerbrechen über die Aktivist:innen der Letzten Generation.
Aus heiterem Himmel tritt ein alter Freund in ihr Leben, der sie mit ihrer längst verdrängten Vergangenheit konfrontiert: Auch Ruth war Umweltaktivistin in den 80er-Jahren – eine elliptische Analogie zur Gegenwart und der Beziehung zu Jenny, die als junge Studentin große Sympathie für die Klimaproteste hegt. Schließlich vermasselt Ruth gedankenverloren ein Interview mit einer großen Tageszeitung (Bauchgrummeln, Kopfzerbrechen), wird plötzlich auf eine junge Mitarbeiterin ihres Mannes eifersüchtig (Haareraufen, grübel, grübel), wird wegen eines anaphylaktischen Schocks in eine Klinik eingewiesen und findet sich sonntags in einer Realität wieder, die es ihrer philosophischen Rekapitulation zu Folge gar nicht geben dürfte.
Auch deshalb zitiere ich diesmal keine Textpassage aus dem besprochenen Roman, sondern eine kleine Stilkritik von Peter Laudenbach über vielsagende PR der Bundesregierung, die Woelks 284 Seiten umfassenden Wochenrückblick in einem Satz zusammenfasst:
„Wenn alles gesagt ist, aber noch nicht von allen, und wenn dann die üblichen Verdächtigen Allgemeinplätze in Endlosschleife aneinanderreihen, damit man merkt, dass sie auch noch da sind, befindet man sich entweder in einer Lebenszeit verschwendenden Bürokonferenz, oder man liest aus Versehen eine Pressemitteilung aus dem Büro der Kulturstaatsministerin Claudia Roth.“ (SZ, 7./8. Oktober 2023, S. 18)
… oder ‚Mittsommertage‘ von Ulrich Woelk. Pandemie, Klimakrise, russischer Angriffskrieg auf die Ukraine, Mutter-Tochter-Beziehung, Eheprobleme und ein Einkaufszentrum für die Siemensstadt: Alles, was derzeit Nachrichtenwert besitzt und ins demoskopische Mindset großstädtischer Milieus passt, packt Ulrich Woelk in diesen völlig überfrachteten Roman. Blass bleiben hingegen alle weiteren Figuren neben der Protagonistin. Und als roter Faden durchzieht den Roman eine lauwarme Wohlfühlverhandlung der Themen an der Oberfläche, für die Woelk auch noch übermäßige Retrospektiven als inhaltlichen Motor benötigt.
‚Mittsommertage‘ ist das literarische Pendant zum Sonntagabendfilm im ZDF. Ohne Ecken und Kanten werden potemkinsche Dörfer errichtet, die nicht wehtun und gut als Gemischtwarenladen für jedermann fungieren. Ja, der Roman liest sich leichtgängig, gelegentlich sogar gut. Ein Anliegen oder romanfüllendes Thema bleibt ‚Mittsommertage‘ schuldig. Stattdessen werden Thesen, Phrasen, Eventualitäten bemüht, hinten denen sich ein möglichst breites Publikum versammeln kann. ‚Mittsommertage‘ verschenkt viel und verharrt im beliebigen Mittelmaß.
- Gelesen im Oktober 2023
- Auf unsere Diskussion über den Roman freue ich mich jetzt schon, lieber Daniel.