Das Schtetl Birobidschan ist ein Versuch. Der Versuch, ein sozialistisches Paradies am Rande der bekannten Welt zu errichten. In Kälte und Steppe nahe der chinesischen Grenze 1908 gegründet, plant Stalin 20 Jahre später ein großes Experiment: eine autonome jüdisch-sozialistische Siedlung. Während der Ort es schwer hat zu Beginn, bringt die grässliche Verheerung des Zweiten Weltkriegs neues Leben in das noch sehr kleine Dorf. Es wird Zufluchtsort und wächst, heimatlose Kinder kommen am Bahnhof an und bleiben. Es sind Kinder wie Sacha und Boris, die hier siedeln und hier ihr Glück suchen.
Die Zeit vergeht, Kinder werden geboren, wachsen heran, verlieben sich, heiraten. Ein rhythmischer Zyklus jahrein, jahraus, bis eines Tages zwei Fremde den Ort erreichen. Bärenjäger seien sie und auf der Durchreise. Während die einen die Gäste skeptisch beäugen, herrscht gewohnte Gastfreundschaft bei den anderen. Bis schließlich Schlimmes geschieht, zwei Morde innerhalb einer Woche und die jüdische Dorfgemeinschaft damit aus den Fugen gerät.
„Boris, der älteste lebende Birobidschaner, kam mit seiner Mutter erst fünf Jahre später. Doch auch im Jahr 1939 war Birobidschan noch kein Paradies, erst durch das, was sie den zweiten Versuch nannten, wurde es zu diesem schönen Ort, der damals vielleicht die letzte Zuflucht für sozialistische Juden war. Vielleicht die letzte Zuflucht, weil Birobidschaner ihr Schtetl nicht so oft verließen und weil die Verlassenden – wie die vielen, die wieder gegangen waren, hier genannt wurden – nicht zurückkehrten, um zu berichten, ob es nicht vielleicht doch noch eine andere Zuflucht gab.“ (S. 21)
Im gleichnamigen Roman ‚Birobidschan‘ beschreibt Tomer Dotan-Dreyfus das fast märchenhaft verschlafene Leben zwischen Baikalsee, sibirischen Wäldern und chinesischer Grenze. Es sind die Geschichten der Alten, die zu Metaphern für die Jungen werden. Mit dem Untergang der Sowjetunion, von der sie hier erst Tage später erfahren, wird der Umbruch zur treibenden Kraft. Die neue Freiheit motorisiert, ist Katalysator, was Dotan-Dreyfus sprachlich wunderbar intoniert. Formal rangieren die 81 kurzen Kapitel in Zeit und Perspektive, weshalb sich der Roman peu à peu als Puzzle zusammensetzt – manchmal kein ganz leichtes Unterfangen.
‚Birobidschan‘ ist weder politisch noch ein klassischer Gesellschaftsroman. Möchte man die 318 Seiten von Dotan-Dreyfus‘ Debütroman einem Genre zuordnen, ist der Kriminalroman mit fantastischer Neigung eine passende Kategorie. Denn ‚Birobidschan‘ ist ein Roman, der Märchen erzählt und mit seinen Protagonist:innen in realistischer Weise auf Spurensuche geht. Der Freundschaft in den Mittelpunkt stellt und von Gemeinschaftssinn handelt. Ein Roman, der vom jüdischen Leben Europas berichtet. Denn Birobidschan kann jeder Ort, jede Familie und Wahlfamilie sein, die mit großen und kleinen Sorgen umgeht und am Ende sogar die Angst vor Wölfen besiegt. Ein ganz eigenwilliger, intensiver und zugleich herzlicher Roman, für den ich leider viel zu viel Zeit brauchte.
- Gelesen im August 2023
- Ein großartiger Zufallsfund auf unserer Tour de Ruhr in der Buchhandlung Proust, Am Handelshof 1 in Essen. Alle Daumen sind gedrückt für den Deutschen Buchpreis und herzlichen Glückwunsch zur Nominierung.