Die Uhr schlägt kurz vor 12 an Silvester vor dem Jahrtausendwechsel, als Ina, Anastasia und Evelyn in einem hippen Stockholmer Atelierhaus aufschlagen. Der Raum ist voll, die Party in vollem Gange. Junge und nicht mehr ganz junge Menschen feiern, tanzen, trinken und taumeln der Mitternacht entgegen. Es ist die Nacht, die Ausgangspunkt ihrer Geschichte sein wird. Einer Geschichte, die die Schwestern trennt, um die Welt führt, wieder vereint und trennt und erneut zusammenbringt.
Nicht mit, aber auch nicht ohne sich können die Mikkola-Schwestern sein, die in zunehmender Abwesenheit ihrer rastlosen Mutter aufwachsen. Die gebürtige Tunesierin verdient im Schweden der 90er-Jahre ihr Geld mit dem Handel hochpreisiger Teppiche. Getrieben von einem vermeintlichen Fluch, entwickelt sie paranoides Fluchtverhalten und verlässt nach wenigen Monaten die kürzlich bezogene Wohnung. Haben die drei Schwestern gerade Kontakte geknüpft, heißt es Aufbruch und weiter.
In Drakenberg wird der Einzelgänger Jonas auf die Mikkola-Schwestern aufmerksam. In kindlicher Fantasie ranken sich krude Geschichten um die drei, die keiner kennt. Jonas hingegen sucht den Kontakt. Auch er wächst mit einem tunesischen Vater auf, der seine Mutter und seine beiden Brüder bald verlässt. So beginnt Jonas, eine Obsession zu entwickeln und die Schwestern zu begleiten: aus der Nähe und Ferne sein weiteres Leben lang.
„In den USA gab es keinen Neid auf Menschen mit großen Plänen, keine Regeln, die es unmöglich machten, eine bessere Version seiner selbst zu werden […] doch stattdessen saßen wir hier fest, in diesem ängstlichen kleinen Land, in dem alle, die große Pläne hatten, schief angeguckt wurden, in dem alle versuchten, sich in die kleinstmögliche Version ihrer selbst zu verwandeln“ (S. 202)
Und so erzählen die Biografien von Ina, Anastasia, Evelyn und Jonas auch immer ein Stück Zeitgeschichte als Hintergrundrauschen in Jonas Hassen Khemiris autofiktionalem Roman ‚Die Schwestern‚. Im Vordergrund läuft das ambivalente Wechselspiel zwischen den vier ungleichen Protagonist:innen. Verbunden durch die familiäre Einwanderungsgeschichte und die gleichzeitige Suche nach Identität, hat der Autor vier völlig verschiedene Hauptfiguren erschaffen. Dabei gelingt es ihm, auf überaus kurzweiligen 732 Seiten komplexe Charaktere zu skizzieren. In einer umfangreichen wie tiefschürfenden Rahmenhandlung erzeugt Khemiri einen Spannungssog, der ‚Die Schwestern‘ zum echten Pageturner werden lässt.
Die Story erzählt nicht mehr, aber auch nicht weniger als aus der Mitte des Lebens. Die Suche nach dem eigenen Glück, der eigenen Herkunft, dem für sich selbst bestmöglichen Lebensentwurf, ohne allzu große Kollateralschäden anzurichten. Sich verlieben, sich trennen, lernen und vergessen, Beziehungen knüpfen und Verbindungen abreißen lassen, heiraten, Krankheiten erleiden und genesen, Menschen für immer verlieren und Kinder kriegen – all jene Zutaten machen das Leben und diesen Roman verlockend schmackhaft.
‚Die Schwestern‘ ist ein überaus lesenswerter Roman, den man problemlos in kurzer Zeit bewältigen kann. Eine zügige Lektüre empfiehlt sich auch. Denn die zahlreichen Nebenhandlungen und Alltagsepisoden links und rechts verlieren sich leicht in den insgesamt sieben ganz unterschiedlich langen Teilen. Von einem Jahr bis zu einer Minute verdichtet und beschleunigt der Autor die erzählte Zeit der Handlung. Zudem wechseln die 137 Kapitel zwischen Jonas‘ Perspektive und Ich-Erzählung sowie einer der drei Schwestern. Insbesondere Jonas‘ Prosa ist eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Satzteilen, was formal seine vorantreibende Persönlichkeit unterstreicht, die Lektüre aber teilweise mühsam werden lässt.
Alles in allem schmälert diese Kritik meine Empfehlung für diesen Roman keineswegs. Denn ‚Die Schwestern‘ ist so zeitgemäß wie zeitgenössisch. Ein Roman, der emotionalisiert, aber nicht aufregt, der sprachlich mitreißend geschrieben und kenntnisreich ist und dessen heimliche Protagonistin auch die Stadt Stockholm sein könnte. Mein Fazit: Prädikat lesenswert!
- Gelesen im Oktober 2025
- Für diese Empfehlung danke ich dem Team der Moabiter Buchkantine ganz besonders. Wahrscheinlich hätten mich Klappentext sowie Umfang von der Lektüre abgehalten.