Der Blick aus dem Fenster verrät, der Winter hat längst Einzug gehalten. Die Bahn zischt durch eine kalte japanische Großstadtlandschaft und Suzu verschwindet geradezu durchsichtig im Gedränge der pendelnden Tausend. Gerade hat sie ihre Stelle verloren. Großer Mist, nicht wahr?, stimmt Suzu innerlich ihrem Hamster Punsuke zu, der wahrscheinlich wieder nicht auf sie wartet, aber immerhin ein Sozialleben simuliert.
Auf, auf, heißt es also. Suzu recherchiert Stellenangebote und bewirbt sich mal missmutig, mal resigniert, meistens entschlossen. Die Einladung folgt schnell und rasch findet sich Suzu im Interview wieder bei Herrn Sakai, der im Reinigungsgewerbe tätig ist. Ein Doppelinterview wird geführt und beide direkt Stellen besetzt. Arbeitsbeginn, morgen 7:00 Uhr. Darauf einen Whisky – und noch einen. Sozusagen eine Resorption in Herrn Sakais Team mit einer Mischung aus Gastlichkeit, Diskretion und robustem Magen.
Dialektisch oszillierend arbeitet sich die Protagonistin frei aus ihrem Kokon. Winter, Frühling, Kirschblütenpicknick: Milena Michiko Flašars Roman ‚Oben Erde, unten Himmel‘ ist die feinsinnige Verhandlung mit dem endgültigen Ende, über das sich die scheinbar isolierte Jugend wenige bis gar keine Gedanken macht. Mit Herrn Sakai, Inhaber einer Reinigungsfirma für Leichenfundorte, stellt die Autorin Suzu einen Antagonisten gegenüber, der väterlich als Mentor die richtigen Fragen stellt.
Und im Mittelpunkt ein täglicher Begleiter. Wer waren die Menschen, die allein verstarben und mitunter Monate unentdeckt blieben? Was bewegte sie – was bewegt eine Gesellschaft der Einsamen? Milena Michiko Flašar stellt vermeintliche Gewissheiten zur Disposition: Individualität, Anonymität, Familie, Durchsichtigkeit als Mittel der Wahl im täglichen Hamsterrad?
Liebevoll erzählt ‚Oben Erde, unten Himmel‘ auf 297 Seiten von einer jungen Frau, die in ihr Leben findet. Hinfindet, durch die nicht immer einfache Auseinandersetzung mit dem Leben der Anderen, der Verstorbenen. Trotz japanischer Skurrilität holt der Roman mich nicht ab, sondern lässt merkwürdig naive Bilder entstehen, die profan, manchmal paternalistisch und überwiegend banal sind. Viele Attribute für einen empathischen Roman, mit denen das auftretende Ensemble gezeichnet ist, sind dem Spannungsbogen wenig zuträglich: Einerseits sein erzählerischer Detailreichtum und andererseits die fast kinderliterarische Erzählweise. Nichtsdestotrotz ist ‚Oben Erde, unten Himmel‘ keineswegs ein schlechter Roman, der leider schlicht zur falschen Zeit um die Ecke kam.
- Gelesen im November 2023
- Eine Empfehlung aus der Buchkantine, Dortmunder Straße 1 in Moabit.