‚PNR: La Bella Vita‘ von Sibylle Berg

Die 22. Maxime für die Zeit nach der Revolution lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen erholsamen Schlaf“. Mit diesem banalen wie einsichtigen Grundrecht im Verfassungsrang hat Sibylle Berg auf Seite 100 ihres aktuellen Dystopieschinkens ‚PNR: La Bella Vita‘ einen erstaunlichen Punkt gesetzt. Nämlich, dass sie sich verrannt hat in ihrer neoanarcho-postkapitalistisch-marxistischen Zukunftstrilogie.

Nach ihren Vorgängerromanen ‚GRM: Brainfuck‘ mit 640 Seiten und ‚RCE: #RemoteCodeExecution‘ mit 704 Seiten entwickelt Berg nun eine Vision für die Zukunft, die Realität geworden ist für die vier Protagonist:innen Karen, Hannah, Pjotr und dem Hacker Ben. Die vier Figuren waren Katalysatoren und Träger der Revolution, deren Erfolge nun auf geradezu sparsamen 410 Seiten skizziert werden.

Es ist der typische Berg-Ton: Eine schnelle, harte, ehrliche und unerwartet slangige Sprache, die für Theater und Film gemacht ist. Die 700 Seiten ‚RCE‘ verdichtet auf eine Stunde am Berliner Ensemble sind ganz großes Theater – eine spitze Unterhaltungsrevue für Großstädter, die sich lebendig fühlen wollen im Kaschmirpullover und bequemen Hosen. Sibylle Berg ist der absolute Gegenentwurf zur Bequemlichkeit, und doch ist ihre deklamierte Position, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, reine PR-Propaganda – um im Ton des Romans zu bleiben.

Dabei ist die Idee verlockend: Karen, Hannah, Pjotr und Ben, die vier, die immer da waren, die vier aus dem Sozialblock, die traumatisierten Trash-Kinder, wie sie sich selbst beschreiben. Mit anderen Nerds haben sie einen Plan entwickelt, den libertären Digitalkapitalismus in Europa zu Fall zu bringen. Die Börsen und Banken zu crashen und den Menschen ihre Freiheit zurückzugeben. Eine Revolution von unten nach oben. Den Armen die Paläste und allen die Anarchie im Gewand Direkter Demokratie.

„Warum nehmen wir nicht den Arbeitstitel „Das schöne Leben“ hatte mich Karen gefragt.

Wir stellten den Begriff in den Europa-Chat und 89% von ungefähr 400 Millionen Menschen, die sich äußerten, liebten die Idee, in einer Gesellschaft mit so einer netten Überschrift zu leben. Ein wenig Kitsch, ein wenig Versprechen – und weiter entfernt von den bekannten ‚ismen‘ konnten wir nicht sein.

Auf Platz 2 der Umfrage kam der Begriff

PNR.“ (S. 31)

Der wirtschaftliche Wiederaufbauplan der Europäischen Union Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza, PNRR, als Vision, als Restart für das neue schöne Leben? Sibylle Bergs ‚PNR: La Bella Vita‘ ist die konsequente Vollendung ihrer Trilogie. Sie bleibt sich und ihren Protagonist:innen treu, ebenso wie ihrer Fangemeinde. Was den ersten beiden Teilen irgendwie noch gut zu Gesicht steht, entlarvt sich jedoch im postrevolutionären Rom, dem primären Handlungsort des letzten Teils, als Anachronismus mit neuem Vokabular.

Bergs Vision wird am Theater zum Fest werden – als Literatur kommt sie einfach nicht aus dem Quark. Sie verschenkt Möglichkeiten ohne Not und ihre verquere Antwort, Direkte Demokratie via #RCE-App sei Erlösung der Menschheit, negiert schlicht Weltgeschichte – und langweilt! Als Autorin steht ihr das selbstverständlich frei, doch ihr visionärer Anlauf verheddert sich, stoppt am Absprung und bleibt hängen im Proseminar zum Historischen Materialismus.

  • Gelesen im Dezember 2025
  • Die Besprechung von Claudius Seidl in der Süddeutschen vom 23. Oktober 2025 klang irgendwie mitreißender und überzeugter, als ich es bin.

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