Als Mimo Vitaliani das erste Mal leibhaftig in Florenz steht, ist er erschlagen von dieser Stadt. Einer Stadt, deren Ecken ihn allesamt an Viola erinnern. Aus der sie spricht. Einer Stadt, deren Wissen er Viola zu verdanken hat über ihre Geschichte, ihre Schätze. Mimo, du Idiot, würde sie sagen, wäre sie bei ihm und läge nicht im Krankenhaus nach diesem Unfug, ihrem Flug und Ausbruch an jenem 16. Geburtstag. Fast auf den Tag genau sind sie geboren, dafür aber ungleicher denn je.
So unwahrscheinlich ihre Freundschaft erscheint, so unwahrscheinlich ist auch Mimos Erfolg. Mimo, der von seiner Mutter Michelangelo getauft wurde – nomen est omen – hasst seinen Namen. Anmaßend findet er ihn, völlig überzogen. Doch schon früh, als er zu einem Onkel oder Cousin oder entfernten Freund nach Turin kommt, wird sein Talent gewahr: Zunächst dem versoffenen Zio, jenem Onkel, Cousin, entfernten Freund, der ihn schuften lässt und ausbeutet. Und Viola, der Tochter des Marcheses, aus der angesehenen Adelsfamilie der Orsinis. Und später dem Marchesen selbst.
„Ein majestätischer Torbogen führte in einen Hof, den man zu einem Depot umfunktioniert hatte, überragt von zahlreichen Fenstern. Alles an diesem Ort vermittelte ein Gefühl von Ordnung und Symmetrie, gemischt mit dem bittersüßen Geruch des Aufgegebenen. Eine Melodie von Spitzmeißel und Schlageisen drang aus mehreren Fenstern im ersten Stock, kontrapunktisch unterlegt mit Rufen, Fragen und Anweisungen, verstärkt noch von unsichtbaren Fluren.“ (S. 191)
Mimo ist Protagonist und Ich-Erzähler in Jean-Baptiste Andreas aktuellem Roman ‚Was ich von ihr weiß‘. Seine Ankunft in Florenz markiert den Abschluss des zweiten Fünftels. Sein Weggang aus dem kleinen ligurischen Dorf Pietra d’Alba sind bedeutsame, unfreiwillige Schritte hin zum gefeierten Bildhauer. Dennoch ist dieser mit dem Prix Concourt prämierte Roman keine klassische Aufstiegsgeschichte und auch kein Roman über Freundschaft, Gerechtigkeit und italienische Weltgeschichte, die ganz beiläufig anklingt und verhandelt wird: der Aufstieg des Faschismus, der Weltkrieg, der Wunsch nach Emanzipation der Geschlechter und Schichten. Es sind 506 Seiten, die wie im Pendelschlag abwechselnd chronologisch und retrospektiv erzählt werden. Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück, ein Blick nach links und eine zweifache Drehung nach rechts. Diese stilistische Leichtfüßigkeit schlägt sich sprachlich elaboriert nieder.
Doch ‚Was ich von ihr weiß‘ ist von Beginn an kein schöngeistiges Leichtgewicht – ganz im Gegenteil. Andrea behaut seinen Roman, wodurch sich Form und Inhalt symbiotisch bedingen. Letztlich entsteht eine literarische Skulptur, die trotz aller Qualität sperrig bleibt. Die sich nicht fassen lässt und einen erst spät in ihren Bann zieht.
„Viola reichte mir die Hand, und ich nahm sie, […] eine stumme Revolution. Viola reichte mir die Hand, und ich nahm sie, und genau in dem Moment wurde ich zum Bildhauer.“ (S. 83)
- Gelesen im Mai 2025
- Ich danke dem Luchterhand Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.